Schicksalswende.
durchaus Nolwcndiges in der Welt. Wachsendes Ethos
und wachsende Selbstbehauptung der Einzelnen werden
sie mehr oder minder beseitigen. Darüber hinaus gibt
es noch viel Notwendiges, das ich notwendig nenne,
weil das eben geschieht. Erklären kann man all das
nicht. Es spottet jeder Erklärung. Sei es ein Natur-
ereignis, ein Erdbeben, ein Schisfsuntergang, eine
Seuche, ein Unglücksfall, ein Hagelschlag, ein vom-
Dach-fallen der Iiegel, ein Mißwachs. Jm vollendeten
Aukunftsstaat wird das Leid und das Leiden noch nicht
ganz geschwunden sein. Es wird nur gemildert sein.
Auch werden Menschen noch lange einander wehe tun,
denn noch „sind nicht alle Menschen gut"! Und darum
werden noch lange (unser Blick reicht noch nicht darüber
hinaus) viele Menschen gehetzt sein, vom Unglück oder
vom Schicksal oder vom Schmerz. Mag das Leiden
subtiler werden, es ist noch lange nicht verschwunden . ..
Und da sind wir wieder an dem Punkte, von dem ich
ausging — — — Die Erfahrung bricht im Menschen
eine Quelle auf und sie heißt Sehnsucht und diese Sehn-
sucht spricht oder ruft: Komme einer und helfe mir!
Und siehe da, manchmal steht einer von den Menschen
auf und-hilft.Geschieht es nicht heute
und alle Tage, daß ein Mensch dem andern hilft? Nur
sind oft noch so viele hart und taub. Es ist aber viel-
leicht die größte Schönheit unter den Menschen
gewesen, wenn einer dem andern half. Der
Sinn aller Kunst und Wissenschaft ist vielleicht nur der,
einander zu helfen. Und bedauerlich mag sein, daß
das Bild eines der schönsten und hilfsreicbsten Menschen
— ich meine Jesus — zum toten Heiligenbilde und
gekreuzigten Leidensbilde wurde und darum so vielen
Menschen von heute fremd. Denn wo ein Mensch des
andern Menschen Not sieht und mit gutem Wort und
ruhiger Hand — nicht Almosen reicht, sondern des
Menschen Bruderhand reicht, da geschieht eben das,
was ich das Wunder nenne, denn da ist der Mensch
wahrhaft Mensch geworden.
Nun sagt jener Schriftsteller, daß dort, wo ein Weiser
zugegen sei, überhaupt kein Unglück geschehen könne.
Das Wort enthüllt eine Wahrheit, die nicht alltäglicb
ist, die aber gleichwohl verstanden werden kann. Jch
muß hier in Beispielen reden, da wird man es am besten
verstehen. Jch knüpfe an ein Drama eines großen
Dichters an, an Friedrich Hebbels „Maria Magdalena".
Da geschieht ein großes Unglück. Und zwar geschieht
es da, weil kein Weiser zugegen ist. Die Tochter eines
braven, zwar engen Bürgersmannes ist schwanger vou
einem Menschen, der nicht gut ist. Sie liebt im Grunde
den andern, der ein guter Mensch ist, und dieser liebt
sie auch. Der Vater ihres ungeborenen Kindes will sie
verlassen, nicht ehelichen, weil er eine bessere „Partie"
glaubt machen zu können. Der aber, der sie liebt, kann
wie er sagt, „nicht darüber hinwegkommen", daß sie
schon einem andern gehört hat. Und der Vater droht
ihr, er werde sich mit dem Rasiermesser die Gurgel
abschneiden; er hat Angst vor der „Schande". Das
Drama hat Hebbel nach einer Begebenheit in München
geschrieben.
Die Tochter geht in den Brunnen, also das Unglück
geschieht. Warum? Weil der eigene Vater bei aller
Bürgersbravheit weisheitslos und gnadelos ist. Des-
gleich der liebende Mann. Solche Dinge geschehen auch
heute noch. Vielleicht läuft Vieles, das ähnlich oder auch
anders ist an „Unglücken" in der Welt, nicht immer
so — unglücklich aus, ist aber doch ebenso tragisch.
Eben weil kein Weiser zugegen ist. Denn der Weise,
wo er kommt und eintritt, bringt auf seinen Lippen oder
in seiner Hand das Wunder mit, welches in kurzer Frist
das schmerzlichste Weinen, die größte Verzweiflung in
einen Frieden oder vielleicht sogar in ein erstes Lächeln
wandelt. Und das geschieht durch die Lüftung eines
Schleiers, durch das Hinwegnehmen eines Schleiers von
den Augen der Menschen, daß kein Grund sei zur Ver-
zweiflung — daß, auf diesen Fall, den ich erzählte, das
Mädchen, die Jungfrau, in Ruhe und Frieden ibr Kind
gebären soll und ihm gute liebevolle, ja ich möchte sagen
glückliche Mutter sein darf und soll.
Der Mensch soll die Schande von den Menschen
nehmen! Das ist eins der notwendigsten Dinge. Der
Mensch soll dem Mitmenschen lieb und gut reden, nicht
ihm drohen mit seiner oder mit der eigenen Vernicbtung.
Der Weise wird sagen: Jhr Menschen, warum ihr ver-
zweifelt seid und weint, seht doch, das ist ein Jrrtum.
Jhr habt so grausame Angst um das Geschehen und habt
so grausame Angst vor dem Unglück. Sehet, ich sage euch,
niemand soll sterben an einem widrigen Schicksal.
Niemand gezwungen sein, sich das Leben zu nehmen.
Menschen, ich rufe das Menschliche in euch auf. Und
noch da, wo das Unglück geschah, wird der Weise sagen:
Jhr da, wachet auf und begreift, das Leben fordert
nicht Verzweiflung und Lebensopfer, eine gütige Stimme
in der Welt (sie spricht durch meinen Mund) rät euch
Menschen zur Stärke und zur Uberwindung des Leids.
Denn ihr könnt es überwinden.
So spricht der Weise. Jmmer sprach er so. Nur war
er oft fern. Warum sprach er nicht immer so? Warum
trat er nicht immer dort ein, wo ein Unglück geschehen
wollte, wo ein Schmerz weinte, wo das Grausen sich
nahte? Und die Angst sich wand? Wieder ein Rätsel,
denn wir wissen nicht, warum der Weise so oft fern
war .....
Nun aber möchte ich den einen kleinen Schritt weiter
führen, der über dies Wort hinaus geht:
Siehe, Mensch, der Weise braucht nicht immer nahe
zu sein. Oder ich kann auch sagen: Er ist immer nahe ...
Wo denn? Jn dir selber, in deiner reinen Menschlichkeit.
Jn deiner eigenen Kraft. Die Weisheit des Weisen,
wo sie vordem eintrat und das Unglück verhütete, war
Kraft. Der Weise, ob er gleich ohne Waffen geht, ist
mächtiger und stärker als alle Widerkraft. Nun, Mensch,
horche auf: Du selbst kannst in dir eben die Stärke finden,
entdecken, die der'Weise dir zu geben vermöchte. Finde
und entdecke sie. Dann vermag fortan das Leiden dich
nicht mehr umzuwerfen. Jn der Welt ist eine Stimme
und ein Glaube. Ein Glaube an die Kraft und an die
Stärke des Menschen, daß er selber imstande sei, das
Unglück zu verhüten und Leiden und Leid zu überwinden.
An diese Kraft im Menschen, an diese Fähigkeit im
Menschen, aus der Sehnsucht und dem Glauben an die
Erlösung zum Wissen zu kommen, daß er selber die
Uberwindung vollbringen kann, rühre ich. Nühre daran
und sage: Jch sage dir, stehe auf!
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durchaus Nolwcndiges in der Welt. Wachsendes Ethos
und wachsende Selbstbehauptung der Einzelnen werden
sie mehr oder minder beseitigen. Darüber hinaus gibt
es noch viel Notwendiges, das ich notwendig nenne,
weil das eben geschieht. Erklären kann man all das
nicht. Es spottet jeder Erklärung. Sei es ein Natur-
ereignis, ein Erdbeben, ein Schisfsuntergang, eine
Seuche, ein Unglücksfall, ein Hagelschlag, ein vom-
Dach-fallen der Iiegel, ein Mißwachs. Jm vollendeten
Aukunftsstaat wird das Leid und das Leiden noch nicht
ganz geschwunden sein. Es wird nur gemildert sein.
Auch werden Menschen noch lange einander wehe tun,
denn noch „sind nicht alle Menschen gut"! Und darum
werden noch lange (unser Blick reicht noch nicht darüber
hinaus) viele Menschen gehetzt sein, vom Unglück oder
vom Schicksal oder vom Schmerz. Mag das Leiden
subtiler werden, es ist noch lange nicht verschwunden . ..
Und da sind wir wieder an dem Punkte, von dem ich
ausging — — — Die Erfahrung bricht im Menschen
eine Quelle auf und sie heißt Sehnsucht und diese Sehn-
sucht spricht oder ruft: Komme einer und helfe mir!
Und siehe da, manchmal steht einer von den Menschen
auf und-hilft.Geschieht es nicht heute
und alle Tage, daß ein Mensch dem andern hilft? Nur
sind oft noch so viele hart und taub. Es ist aber viel-
leicht die größte Schönheit unter den Menschen
gewesen, wenn einer dem andern half. Der
Sinn aller Kunst und Wissenschaft ist vielleicht nur der,
einander zu helfen. Und bedauerlich mag sein, daß
das Bild eines der schönsten und hilfsreicbsten Menschen
— ich meine Jesus — zum toten Heiligenbilde und
gekreuzigten Leidensbilde wurde und darum so vielen
Menschen von heute fremd. Denn wo ein Mensch des
andern Menschen Not sieht und mit gutem Wort und
ruhiger Hand — nicht Almosen reicht, sondern des
Menschen Bruderhand reicht, da geschieht eben das,
was ich das Wunder nenne, denn da ist der Mensch
wahrhaft Mensch geworden.
Nun sagt jener Schriftsteller, daß dort, wo ein Weiser
zugegen sei, überhaupt kein Unglück geschehen könne.
Das Wort enthüllt eine Wahrheit, die nicht alltäglicb
ist, die aber gleichwohl verstanden werden kann. Jch
muß hier in Beispielen reden, da wird man es am besten
verstehen. Jch knüpfe an ein Drama eines großen
Dichters an, an Friedrich Hebbels „Maria Magdalena".
Da geschieht ein großes Unglück. Und zwar geschieht
es da, weil kein Weiser zugegen ist. Die Tochter eines
braven, zwar engen Bürgersmannes ist schwanger vou
einem Menschen, der nicht gut ist. Sie liebt im Grunde
den andern, der ein guter Mensch ist, und dieser liebt
sie auch. Der Vater ihres ungeborenen Kindes will sie
verlassen, nicht ehelichen, weil er eine bessere „Partie"
glaubt machen zu können. Der aber, der sie liebt, kann
wie er sagt, „nicht darüber hinwegkommen", daß sie
schon einem andern gehört hat. Und der Vater droht
ihr, er werde sich mit dem Rasiermesser die Gurgel
abschneiden; er hat Angst vor der „Schande". Das
Drama hat Hebbel nach einer Begebenheit in München
geschrieben.
Die Tochter geht in den Brunnen, also das Unglück
geschieht. Warum? Weil der eigene Vater bei aller
Bürgersbravheit weisheitslos und gnadelos ist. Des-
gleich der liebende Mann. Solche Dinge geschehen auch
heute noch. Vielleicht läuft Vieles, das ähnlich oder auch
anders ist an „Unglücken" in der Welt, nicht immer
so — unglücklich aus, ist aber doch ebenso tragisch.
Eben weil kein Weiser zugegen ist. Denn der Weise,
wo er kommt und eintritt, bringt auf seinen Lippen oder
in seiner Hand das Wunder mit, welches in kurzer Frist
das schmerzlichste Weinen, die größte Verzweiflung in
einen Frieden oder vielleicht sogar in ein erstes Lächeln
wandelt. Und das geschieht durch die Lüftung eines
Schleiers, durch das Hinwegnehmen eines Schleiers von
den Augen der Menschen, daß kein Grund sei zur Ver-
zweiflung — daß, auf diesen Fall, den ich erzählte, das
Mädchen, die Jungfrau, in Ruhe und Frieden ibr Kind
gebären soll und ihm gute liebevolle, ja ich möchte sagen
glückliche Mutter sein darf und soll.
Der Mensch soll die Schande von den Menschen
nehmen! Das ist eins der notwendigsten Dinge. Der
Mensch soll dem Mitmenschen lieb und gut reden, nicht
ihm drohen mit seiner oder mit der eigenen Vernicbtung.
Der Weise wird sagen: Jhr Menschen, warum ihr ver-
zweifelt seid und weint, seht doch, das ist ein Jrrtum.
Jhr habt so grausame Angst um das Geschehen und habt
so grausame Angst vor dem Unglück. Sehet, ich sage euch,
niemand soll sterben an einem widrigen Schicksal.
Niemand gezwungen sein, sich das Leben zu nehmen.
Menschen, ich rufe das Menschliche in euch auf. Und
noch da, wo das Unglück geschah, wird der Weise sagen:
Jhr da, wachet auf und begreift, das Leben fordert
nicht Verzweiflung und Lebensopfer, eine gütige Stimme
in der Welt (sie spricht durch meinen Mund) rät euch
Menschen zur Stärke und zur Uberwindung des Leids.
Denn ihr könnt es überwinden.
So spricht der Weise. Jmmer sprach er so. Nur war
er oft fern. Warum sprach er nicht immer so? Warum
trat er nicht immer dort ein, wo ein Unglück geschehen
wollte, wo ein Schmerz weinte, wo das Grausen sich
nahte? Und die Angst sich wand? Wieder ein Rätsel,
denn wir wissen nicht, warum der Weise so oft fern
war .....
Nun aber möchte ich den einen kleinen Schritt weiter
führen, der über dies Wort hinaus geht:
Siehe, Mensch, der Weise braucht nicht immer nahe
zu sein. Oder ich kann auch sagen: Er ist immer nahe ...
Wo denn? Jn dir selber, in deiner reinen Menschlichkeit.
Jn deiner eigenen Kraft. Die Weisheit des Weisen,
wo sie vordem eintrat und das Unglück verhütete, war
Kraft. Der Weise, ob er gleich ohne Waffen geht, ist
mächtiger und stärker als alle Widerkraft. Nun, Mensch,
horche auf: Du selbst kannst in dir eben die Stärke finden,
entdecken, die der'Weise dir zu geben vermöchte. Finde
und entdecke sie. Dann vermag fortan das Leiden dich
nicht mehr umzuwerfen. Jn der Welt ist eine Stimme
und ein Glaube. Ein Glaube an die Kraft und an die
Stärke des Menschen, daß er selber imstande sei, das
Unglück zu verhüten und Leiden und Leid zu überwinden.
An diese Kraft im Menschen, an diese Fähigkeit im
Menschen, aus der Sehnsucht und dem Glauben an die
Erlösung zum Wissen zu kommen, daß er selber die
Uberwindung vollbringen kann, rühre ich. Nühre daran
und sage: Jch sage dir, stehe auf!
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