Jdeal, den Grundton bestimmt.
Der aber spiegelt sich auch dann
in den Iügen dieser spätgotischen
Menschen, wo der Gegenstand kei-
neswegs dazu auffordert: Unter
den Aposteln der Himmelfahrt
Mariä im Creglinger Altar des
Riemenschneider sinden sich neben
manchen Gestalten von spießbür-
gerlicher Engherzigkeit und klein-
lichem Realismus — dieser Gegen-
pol der spätgotischen Kunst drangt
sich namentlich bei senem Meister
oft peinlich hervor — einige wun-
dervolle Köpfe von einem weichen,
schwärmerischen, fast an die eng-
lischen Praraffaeliten erinnernden
Typ, die selbst während begeister-
1er Erhebung der Seele noch einen
Rest von sanfter Trauer nicht ak-
zuschüttelnvermögen,und rvorin ich
etwas für die spätgotische Kunst
Spezifisches erblicken möchte. Aum
mindesten gilt das für die südwest-
deutsche Gruppe. Der hier wieder-
gegebene Kopf des Arztes aus dem
Relies des Kaiser-Heinrich-Grabes,
die für mein Empfinden weitaus
bedeutendste Schöpfung Ric-
menschneiders (Abb.8H der
unvergleichliche Breidenbach
von dem Mainzer Grabmal,
dessen jugendliches Antlitz
mit den schmalery rassigen
Aügen bereits in die geöff-
neten Himmel zu blicken
scheint(Abb.10),oder der im
Januarheft des Jahrgangs
1907 als Vollbild veröffent-
lichte Nikodemus der Mainzer
Grablegung dürfen als weitere
Belege für diese Auffassung
gelten. Selbst der so gesund-
bürgerliche Adam Kraft, von
dem die Wiesbadener Aus-
stellung Vergrößerungen der
prachtvollen, von Frl. Or.
D. Stern aufgenommenen
Kopfdetails enthält, huldigt
in den besten Gestalten des
Schreyergrabes und der köst-
lichen kleinen Heiligenfigur
vom Landauer Epitaph dem
gleichen Jdealtyp. Als
eminentes Beispiel höchster
Vergeistigung und vollkom-
menster Versinnlichung des
„inneren ChristusHum einen
Ausdruck des herrlichen Sc-
bastian Franck zu gebrauchen,
darf der ^Hieronymus des
Jsenheimer Altars nicht unerwähnt
bleiben. Auch er hat den ernsten
Leidenszug um die mageren Wan-
gen. Mit den tiefliegenden, sanft
und zugleich eindringlich leuchten-
den Augen, einen Aug leiser ilber-
legenheit umdie Mundwinkel,blickt
er auf seinen temperamentvollen
Partner, den heftig erregten,
ketzerrichterischen Augustinus, dern
er seinerseits das Verstehen und
Verzeihen gegenüberstellt; denn
nichts Menschliches ist ihm fremd.
Jch rechne diese Gestalt zusammen
mit dem Breidenbach und dem
Mainzer Nikodemus zum Tiefsten
und Herrlichsten, rvas die christliche
Kunst der Menschheit geschenkt hat;
auch den Ungläubigen reißt es bei
ihrem Anblick in die Kniee.
Augleich ist hier die absolute
Einheit zwischen Form,Jnhalt und
Material erreicht. Namentlich vor
dem Nikodemus wird jeder Bild-
hauer in hellstes Entzücken geraten;
eine vollkommenere Übersetzung
von Fleisch und Blut, Kleidern und
Pelzwerk in das Steinmäßige ist
undenkbar. Augleich hat
hier, noch vor jeder Berüh-
rung mit Jtalien — das Werk
entstand um 1492 — die
deutsche Kunst aus Eigenem
den Naturalismus des Quat-
trocento überwunden und ist
zur Darstellung eines von
den Fufallsschlacken der Ein-
zelerscheinung gereinigten
Menschentyps vorgeschritten;
nur noch das Wesentliche,
das Ewige im Menschen ist
mit breiten kühnen Aügen
festgehalten; auch dieser Stil
ist „klassisch" in des Wortes
tieferer Bedeutung, denn er
verkörpert nicht minder voll-
kommen das Jdeal einer
geschichtlichen Epoche wie der
Parthenonfries des Phidias,
nur daß er nicht der Dar-
stellung des äußeren sondern
des inneren Menschen ge-
widmet ist.
Bis in die Mitte des
zweiten Jahrzehntes können
wir noch im XVI. Säkulum
diese durchgeistigte, so un-
endlich feinfühlige, zarte
Kunst verfolgen, hier und da
— aber durchaus nicht übei-
all — tritt dann eine Ent-
Abb.90. Dom Grabmal des Bernh. v. Breidenbach (1149?) im Main-
zer Dom. Phot. I. P. Haas, Mainz. Die Wicsb. Ps ot. mißt 50 om.
Abb. 9. Meister H. L. Die Krone der Maria a. d.
Breisacher Hochaltar. Photogr. Kratt, Karlsruhe.
Der aber spiegelt sich auch dann
in den Iügen dieser spätgotischen
Menschen, wo der Gegenstand kei-
neswegs dazu auffordert: Unter
den Aposteln der Himmelfahrt
Mariä im Creglinger Altar des
Riemenschneider sinden sich neben
manchen Gestalten von spießbür-
gerlicher Engherzigkeit und klein-
lichem Realismus — dieser Gegen-
pol der spätgotischen Kunst drangt
sich namentlich bei senem Meister
oft peinlich hervor — einige wun-
dervolle Köpfe von einem weichen,
schwärmerischen, fast an die eng-
lischen Praraffaeliten erinnernden
Typ, die selbst während begeister-
1er Erhebung der Seele noch einen
Rest von sanfter Trauer nicht ak-
zuschüttelnvermögen,und rvorin ich
etwas für die spätgotische Kunst
Spezifisches erblicken möchte. Aum
mindesten gilt das für die südwest-
deutsche Gruppe. Der hier wieder-
gegebene Kopf des Arztes aus dem
Relies des Kaiser-Heinrich-Grabes,
die für mein Empfinden weitaus
bedeutendste Schöpfung Ric-
menschneiders (Abb.8H der
unvergleichliche Breidenbach
von dem Mainzer Grabmal,
dessen jugendliches Antlitz
mit den schmalery rassigen
Aügen bereits in die geöff-
neten Himmel zu blicken
scheint(Abb.10),oder der im
Januarheft des Jahrgangs
1907 als Vollbild veröffent-
lichte Nikodemus der Mainzer
Grablegung dürfen als weitere
Belege für diese Auffassung
gelten. Selbst der so gesund-
bürgerliche Adam Kraft, von
dem die Wiesbadener Aus-
stellung Vergrößerungen der
prachtvollen, von Frl. Or.
D. Stern aufgenommenen
Kopfdetails enthält, huldigt
in den besten Gestalten des
Schreyergrabes und der köst-
lichen kleinen Heiligenfigur
vom Landauer Epitaph dem
gleichen Jdealtyp. Als
eminentes Beispiel höchster
Vergeistigung und vollkom-
menster Versinnlichung des
„inneren ChristusHum einen
Ausdruck des herrlichen Sc-
bastian Franck zu gebrauchen,
darf der ^Hieronymus des
Jsenheimer Altars nicht unerwähnt
bleiben. Auch er hat den ernsten
Leidenszug um die mageren Wan-
gen. Mit den tiefliegenden, sanft
und zugleich eindringlich leuchten-
den Augen, einen Aug leiser ilber-
legenheit umdie Mundwinkel,blickt
er auf seinen temperamentvollen
Partner, den heftig erregten,
ketzerrichterischen Augustinus, dern
er seinerseits das Verstehen und
Verzeihen gegenüberstellt; denn
nichts Menschliches ist ihm fremd.
Jch rechne diese Gestalt zusammen
mit dem Breidenbach und dem
Mainzer Nikodemus zum Tiefsten
und Herrlichsten, rvas die christliche
Kunst der Menschheit geschenkt hat;
auch den Ungläubigen reißt es bei
ihrem Anblick in die Kniee.
Augleich ist hier die absolute
Einheit zwischen Form,Jnhalt und
Material erreicht. Namentlich vor
dem Nikodemus wird jeder Bild-
hauer in hellstes Entzücken geraten;
eine vollkommenere Übersetzung
von Fleisch und Blut, Kleidern und
Pelzwerk in das Steinmäßige ist
undenkbar. Augleich hat
hier, noch vor jeder Berüh-
rung mit Jtalien — das Werk
entstand um 1492 — die
deutsche Kunst aus Eigenem
den Naturalismus des Quat-
trocento überwunden und ist
zur Darstellung eines von
den Fufallsschlacken der Ein-
zelerscheinung gereinigten
Menschentyps vorgeschritten;
nur noch das Wesentliche,
das Ewige im Menschen ist
mit breiten kühnen Aügen
festgehalten; auch dieser Stil
ist „klassisch" in des Wortes
tieferer Bedeutung, denn er
verkörpert nicht minder voll-
kommen das Jdeal einer
geschichtlichen Epoche wie der
Parthenonfries des Phidias,
nur daß er nicht der Dar-
stellung des äußeren sondern
des inneren Menschen ge-
widmet ist.
Bis in die Mitte des
zweiten Jahrzehntes können
wir noch im XVI. Säkulum
diese durchgeistigte, so un-
endlich feinfühlige, zarte
Kunst verfolgen, hier und da
— aber durchaus nicht übei-
all — tritt dann eine Ent-
Abb.90. Dom Grabmal des Bernh. v. Breidenbach (1149?) im Main-
zer Dom. Phot. I. P. Haas, Mainz. Die Wicsb. Ps ot. mißt 50 om.
Abb. 9. Meister H. L. Die Krone der Maria a. d.
Breisacher Hochaltar. Photogr. Kratt, Karlsruhe.