Aus: „Der Spiegel".
gewaltig über Dunkel und Schlummer der Erde dahin-
schwellende Glockendröhnen,Glockensummen und Glocken-
wogen der tiefen Nacht, den Gesang der Lüfte, den Jnhalt
und die Seele der Unendlichkeit. Es ist ein beglückendes
Erkennen, diesen Klang zu hören, beglückend wie das
Sonnenlicht wieder zu sehen, und wunderbarer. So
hörte ich es auf den Bergen durch das Rauschen der
Gletscherwasser, auf dem Meere durch das Knarren der
Rahen und Maste, durch das Schlappen und Knallen
der Segel hindurch, so als Kind, wenn ich nicht schlafen
konnte oder — wie jetzt — in den nächtigen Morgen-
stunden allein saß.
Joftfine.
„Ja —" antwortete die Tante versonnen; sie hatte
mir wohl nicht ganz zugehört; ja — es war ein
schöner Blick über das breite Wasser hinüber — in die
Bäume — — und es war ein schöner Vormittag, als
ich sie besuchte. Das Fenster stand offen, die Sonne
schien herein und zeichnete das Gitter schräg nach rechts
hin brennend auf den Fußboden; draußen rauschte der
Fluß und spiegelte seine ewige Unruhe mit wimmelnden
Lichtflecken an der Aimmerdecke ab. Meinen Gruß be-
achteten die Schwestern nicht. Jhrer Namen, bei denen
ich sie rief, schienen sie sich nicht zu entsinnen. Nur wie
ein Hund an einen Neuangekommenen hingeht, ihn
beschnuppert und wieder verläßt, so kam Josefine lang-
sam mit heimlichen, auf den Aehen wüegenden Schritten,
doch wie spazierengehend auf dem weitesten Wege her,
blickte mich im Vorübergehen, nur kurz mit dem Kopfe
rückend, an und ging, ohne meine hingestreckte Hand
und meine Worte zu beachten, weiter und in ihren
Winkel. Mathilde hockte, ohne sich zu rühren, in der
andern Ecke neben dem Fenster, hatte ihr langes, früher
so herrliches, rötlichblondes Haar strähnig und ivirr
übers Gesicht hängen, und zwischen diesem Netzwerk
hindurch belauerten mich hart wie Türkise ihre Augen,
sahen mir aber nie ins Gesicht, sondern starrten immer
auf meine Knie. Jch trat zu ihr hin, begrüßte sie noch
einmal, grüßte sie von den Eltern,Geschwistern, Freunden,
ich vermied sogar einen Namen nicht, der ihr sehr teuer
gewesen war und ihr Schmerz gebracht hatte — sie spielte
mit der blassen Hand in dem verwahrlosten Haar, starrte
mit leeren Blicken an mir vorbei und schien mein Dasein
überhaupt nicht mehr wahrzunehmen.
Jch war so unglücklich und trostlos, als wäre ich
durch Aauber in eine leerlaufende, klappernde Wind-
mühle verwandelt. Jch ging am Fenster vorbei nach
der andern Ecke, um es mit Josefinen zu versuchen;
aber als sie mich näherkommen sah, glitt sie aus der
Ecke und ein paar heimliche Schritte an der Wand hin.
Wie eine Katze wich sie, sobald ich mich näherte, drei
Schritte weiter, blieb stehen und blickte mir gespannt in
die Augen, während ihr schlanker Körper sich anmutig
reckte und bog und wand und nicht ruhte. Dabei ge-
wahrte ich auch, daß alles an ihr in Ordnung, daß ihr
Haar tadellos gescheitelt, geflochten und aufgesteckt und
daß ihr Kleid sauber und wohlgehalten war. Um das
halbe Aimmer folgte ich ihr oder trieb ich sie herum,
dann gab ich's auf und blieb stehen, wo ich schon nach
meinem Eintritt gestanden; sie ging mit ihren elastisch
wiegenden Schritten auf den Aehen langsam in ihre Ecke.
Dort drehte sie sich um zu mir, stützte den Ellenbogen
gegen die Wand und den Kopf leicht gegen den Finger
und fing an, mir ohne Aorn oder Erregung, in geschäfts-
mäßigem Ton, wie wenn einer die eingelaufenen Waren
mit der Liste vergleicht und die Namen herunterliest, eine
Fülle der erstaunlichsten Schimpfwörter ins Gesicht zu
sagen; Ausdrücke, die ich nie gehört oder, wenn schon
gehört, nicht verstanden und wieder vergessen hatte, die
sie selbst früher am wenigsten in den Mund genommen
hätte, aber auch absonderliche Namen wie Hinkeldey
und Jtzenplitz, die kamen nun gleichmäßig, eines nach
dem andern zwischen dem stillen Rauschen des Wassers
wie widerliche Aaubervögel durch die sonnige Stube auf
mich zugeflogen und schlüpften schmutzig in mich hinein,
und ich konnte nichts dagegen tun. Jch sah die Schwester
entsetzt an und flehte manchmal: „Josefine! bitte, liebe
Josefine, ich bitte dich!" — Sie machte gleichmäßig
weiter, wie die Wanduhr tickt, und nur wenn ein Wort
schöne Vokale zusammenstellte, verweilte sie, in dem
Wohllaute schwelgend wie französische Tragödinnen, und
wenn ein i drin vorkam, so sprach sie das Wort z. B.
Jtzenplitz! Bimini! mit Abscheu und wiederholte es mit
Nachdruck und zog dabei die Brauen in die Höhe. Jn
meinem Entsetzen über die Häßlichkeit der meisten Wörter
mußte ich doch auch an die Aeit denken, wo die Armste
stch mit begeistertem Fleiß im Gesang ausgebildet, für
dre Bühne vorbereitet und zu Hause Sprechübungen
gemacht hatte. — Endlich war ihr Wörtervorrat zu Ende,
sie schwieg, es war still in der Ielle, ich hörte das Wasser
außen rauschen, ein Schwälbchen schoß gegen das Fenster
her, hing einen Augenblick schwarzweiß im Gitter, äugelte
hin und her, zwitscherte und warf sich rückwärts wieder
in die freie Luft — Josefine stand immer noch Zierlich
still, den Ellbogen leicht gegen die Wand, den Kopf
gegen den Finger gestützt, als wüßte sie, wie eigen sie
so aussah.
Jch konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten,
blickte endlich nach Hilfe um, bolte mir einen an der
Wand stehenden Hocker herbei und ließ mich darauf
nieder. Jch fing an, allerhand erdichtete Aufträge und
Botschaften auszurichten, bald an die eine, bald an die
andere, erzählte von Verwandten und Freundinnen, von
Schicksal, Heirat und Tod — die beiden gaben keine
Antwort auf Frage und Anrede, kein Aeichen des Ver-
ständnijses, hielten sich wie verscheuchte Tiere in ihren
Ecken und belauerten mich. Ein Abgrund klaffte zwischen
uns, über den ich nicht hinüber konnte, eine Glaswand
stand zwischen uns, durch die sie mich sahen, aber keinen
Laut vernahmen, durch die mein verzweifeltster Herz-
schlag ihnen nicht spürbar blieb. Selber halb irrsinnig
vor Ohnmacht suchte ich in meinem Gedächtnisse nach
Dingen und Vorkommnissen, um ihre Aufmerksamkeit zu
wecken — sie blieben wie Stein, Aber so kam ich auf
das Theater zu sprechen, auf Vaters Dirigententätigkeit,
auf die Oper und fragte: „wißt ihr nicht mehr und
hob mit der Arie der Königin der Nacht an:
„O zittre nicht, mein lieber Sohn —"
und Mathilde fing an, mitzusummen — sang vor sich
hin — faltete die Beine unter dem Leibe hervor und
streckte sie aus, richtete den Oberkörper auf, warf das
gewaltig über Dunkel und Schlummer der Erde dahin-
schwellende Glockendröhnen,Glockensummen und Glocken-
wogen der tiefen Nacht, den Gesang der Lüfte, den Jnhalt
und die Seele der Unendlichkeit. Es ist ein beglückendes
Erkennen, diesen Klang zu hören, beglückend wie das
Sonnenlicht wieder zu sehen, und wunderbarer. So
hörte ich es auf den Bergen durch das Rauschen der
Gletscherwasser, auf dem Meere durch das Knarren der
Rahen und Maste, durch das Schlappen und Knallen
der Segel hindurch, so als Kind, wenn ich nicht schlafen
konnte oder — wie jetzt — in den nächtigen Morgen-
stunden allein saß.
Joftfine.
„Ja —" antwortete die Tante versonnen; sie hatte
mir wohl nicht ganz zugehört; ja — es war ein
schöner Blick über das breite Wasser hinüber — in die
Bäume — — und es war ein schöner Vormittag, als
ich sie besuchte. Das Fenster stand offen, die Sonne
schien herein und zeichnete das Gitter schräg nach rechts
hin brennend auf den Fußboden; draußen rauschte der
Fluß und spiegelte seine ewige Unruhe mit wimmelnden
Lichtflecken an der Aimmerdecke ab. Meinen Gruß be-
achteten die Schwestern nicht. Jhrer Namen, bei denen
ich sie rief, schienen sie sich nicht zu entsinnen. Nur wie
ein Hund an einen Neuangekommenen hingeht, ihn
beschnuppert und wieder verläßt, so kam Josefine lang-
sam mit heimlichen, auf den Aehen wüegenden Schritten,
doch wie spazierengehend auf dem weitesten Wege her,
blickte mich im Vorübergehen, nur kurz mit dem Kopfe
rückend, an und ging, ohne meine hingestreckte Hand
und meine Worte zu beachten, weiter und in ihren
Winkel. Mathilde hockte, ohne sich zu rühren, in der
andern Ecke neben dem Fenster, hatte ihr langes, früher
so herrliches, rötlichblondes Haar strähnig und ivirr
übers Gesicht hängen, und zwischen diesem Netzwerk
hindurch belauerten mich hart wie Türkise ihre Augen,
sahen mir aber nie ins Gesicht, sondern starrten immer
auf meine Knie. Jch trat zu ihr hin, begrüßte sie noch
einmal, grüßte sie von den Eltern,Geschwistern, Freunden,
ich vermied sogar einen Namen nicht, der ihr sehr teuer
gewesen war und ihr Schmerz gebracht hatte — sie spielte
mit der blassen Hand in dem verwahrlosten Haar, starrte
mit leeren Blicken an mir vorbei und schien mein Dasein
überhaupt nicht mehr wahrzunehmen.
Jch war so unglücklich und trostlos, als wäre ich
durch Aauber in eine leerlaufende, klappernde Wind-
mühle verwandelt. Jch ging am Fenster vorbei nach
der andern Ecke, um es mit Josefinen zu versuchen;
aber als sie mich näherkommen sah, glitt sie aus der
Ecke und ein paar heimliche Schritte an der Wand hin.
Wie eine Katze wich sie, sobald ich mich näherte, drei
Schritte weiter, blieb stehen und blickte mir gespannt in
die Augen, während ihr schlanker Körper sich anmutig
reckte und bog und wand und nicht ruhte. Dabei ge-
wahrte ich auch, daß alles an ihr in Ordnung, daß ihr
Haar tadellos gescheitelt, geflochten und aufgesteckt und
daß ihr Kleid sauber und wohlgehalten war. Um das
halbe Aimmer folgte ich ihr oder trieb ich sie herum,
dann gab ich's auf und blieb stehen, wo ich schon nach
meinem Eintritt gestanden; sie ging mit ihren elastisch
wiegenden Schritten auf den Aehen langsam in ihre Ecke.
Dort drehte sie sich um zu mir, stützte den Ellenbogen
gegen die Wand und den Kopf leicht gegen den Finger
und fing an, mir ohne Aorn oder Erregung, in geschäfts-
mäßigem Ton, wie wenn einer die eingelaufenen Waren
mit der Liste vergleicht und die Namen herunterliest, eine
Fülle der erstaunlichsten Schimpfwörter ins Gesicht zu
sagen; Ausdrücke, die ich nie gehört oder, wenn schon
gehört, nicht verstanden und wieder vergessen hatte, die
sie selbst früher am wenigsten in den Mund genommen
hätte, aber auch absonderliche Namen wie Hinkeldey
und Jtzenplitz, die kamen nun gleichmäßig, eines nach
dem andern zwischen dem stillen Rauschen des Wassers
wie widerliche Aaubervögel durch die sonnige Stube auf
mich zugeflogen und schlüpften schmutzig in mich hinein,
und ich konnte nichts dagegen tun. Jch sah die Schwester
entsetzt an und flehte manchmal: „Josefine! bitte, liebe
Josefine, ich bitte dich!" — Sie machte gleichmäßig
weiter, wie die Wanduhr tickt, und nur wenn ein Wort
schöne Vokale zusammenstellte, verweilte sie, in dem
Wohllaute schwelgend wie französische Tragödinnen, und
wenn ein i drin vorkam, so sprach sie das Wort z. B.
Jtzenplitz! Bimini! mit Abscheu und wiederholte es mit
Nachdruck und zog dabei die Brauen in die Höhe. Jn
meinem Entsetzen über die Häßlichkeit der meisten Wörter
mußte ich doch auch an die Aeit denken, wo die Armste
stch mit begeistertem Fleiß im Gesang ausgebildet, für
dre Bühne vorbereitet und zu Hause Sprechübungen
gemacht hatte. — Endlich war ihr Wörtervorrat zu Ende,
sie schwieg, es war still in der Ielle, ich hörte das Wasser
außen rauschen, ein Schwälbchen schoß gegen das Fenster
her, hing einen Augenblick schwarzweiß im Gitter, äugelte
hin und her, zwitscherte und warf sich rückwärts wieder
in die freie Luft — Josefine stand immer noch Zierlich
still, den Ellbogen leicht gegen die Wand, den Kopf
gegen den Finger gestützt, als wüßte sie, wie eigen sie
so aussah.
Jch konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten,
blickte endlich nach Hilfe um, bolte mir einen an der
Wand stehenden Hocker herbei und ließ mich darauf
nieder. Jch fing an, allerhand erdichtete Aufträge und
Botschaften auszurichten, bald an die eine, bald an die
andere, erzählte von Verwandten und Freundinnen, von
Schicksal, Heirat und Tod — die beiden gaben keine
Antwort auf Frage und Anrede, kein Aeichen des Ver-
ständnijses, hielten sich wie verscheuchte Tiere in ihren
Ecken und belauerten mich. Ein Abgrund klaffte zwischen
uns, über den ich nicht hinüber konnte, eine Glaswand
stand zwischen uns, durch die sie mich sahen, aber keinen
Laut vernahmen, durch die mein verzweifeltster Herz-
schlag ihnen nicht spürbar blieb. Selber halb irrsinnig
vor Ohnmacht suchte ich in meinem Gedächtnisse nach
Dingen und Vorkommnissen, um ihre Aufmerksamkeit zu
wecken — sie blieben wie Stein, Aber so kam ich auf
das Theater zu sprechen, auf Vaters Dirigententätigkeit,
auf die Oper und fragte: „wißt ihr nicht mehr und
hob mit der Arie der Königin der Nacht an:
„O zittre nicht, mein lieber Sohn —"
und Mathilde fing an, mitzusummen — sang vor sich
hin — faltete die Beine unter dem Leibe hervor und
streckte sie aus, richtete den Oberkörper auf, warf das