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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 30.1920

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Heft 4
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Das Maschinenherz: eine Predigt über einen altchinesischen Text
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https://doi.org/10.11588/diglit.26486#0216

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Das Maschinenherz.

Kinder, des einstigen Herrschers eines sehr großen
Reiches, zu erfüllen.

Jst das denn möglich, wenn eine Mutter mit ihrem
Kind verbunden ist? Das geringste Tier weiß, was
seinen Jungen gut ist, und die menschliche Mutter weiß
es nicht mehr? Die Mutter ist ja nur die Gattin des
Thronfolgers. Aber was ist denn der Thronfolger für
ein Mann, wenn er eine solche Frau hat? Wie will er
einmal sein Volk leiten, wenn seine Kinder noch nicht
einmal richtig ernährt werden?

Das ist also die Ansicht des Alten, und die machte auf
den Philosophen solchen Eindruck, daß er drei Stunden
weit lief, ehe er wieder zu sich kam.

Da fragten ihn seine Schüler. Natürlich hatte der
Philosoph auch Schüler: er ist Schüler und er hat Schüler,
damit die Weisheit ja nicht verloren geht. Da fragten
ihn also die Schüler, was das denn eigentlich für ein
Mann war, der ihn so verwirrt gemacht hat?

Er antwortet: „Jch hatte vordem gedacht, daß es auf
der Welt nur einen großen Mann gebe, und wußte nicht,
daß es noch diesen Mann gibt."

Unser Philosoph ist ein Chinese und also geschmackvoll;
ein heutiger Europäer würde mit dem „einen großen
Mann" sich selber meinen; der Chinese meint seinen
Lehrer. Dem stellt er nun den Alten als zweiten großen
Mann gegenüber. (Wie billig gibt er den Titel des
großen Mannes; vielleicht nicht ganz so billig, wie die
heutige Aeit, denn heute kann man ihn schon bekommen,
wenn man einen Tunnel baut, der länger ist wie die vor-
handenen Tunnels.)

Was hatte ihm sein Lehrer, der eine große Mann, ge-
sagt: „Daß es der Sinn der berufenen Heiligen sei, in
allen Taten das Mögliche zu erstreben, mit möglichst
wenig Kraftaufwand möglichst viel zu erreichen."

Man siebt, Herr Professor Ostwald ist nicht gerade
der Allererste, der diese große Wahrheit in Form gefaßt
hat. Er glaubt es; aber er irrt sich -wirklich, denn das
Buch, in welchem unsere Geschichte steht, ist zweitausend-
dreihundert Jahre alt. Aber das ist ja Nebensache. Die
Hauptsache ist: diese große Wahrheit des Lehrers unseres
Philosophen ist heute in der Wirklichkeit allgemein an-
genommen. Nach ihr richtet sich unser ganzes Leben; sie
ist der Jnhalt unserer Aeit; Herr Professor Ostwald, wie
das bei genialen Personen ja oft geht, hat uns das tiefste
Geheimnis seiner Aeit offenbart: es ist die Organisation.

Äber wie? Der Alte hat unseren Philosophen bekehrt.
Der hält die große Wahrheit seines Lehrers jetzt für einen
großen Jrrtum. Er hält seinen Lehrer nicht mehr für
den großen Mann, sondern den Alten; ja noch mehr: es
stellt sich plötzlich heraus, daß er eine Sehnsucht nach dem
„starken Mann" hatte, ganz wie die Menschen von heute,
welche an die große Ostwaldsche Wahrheit glauben; und
diesen starken Mann findet er nun in — dem Alten.

Er sagt: „Wer den Ursinn festhält, hat völliges Leben.
Wer völliges Leben hat, wird völlig in seiner Leiblichkeit.
Wer völlig in seiner Leiblichkeit ist, wird völlig im Geiste;
völlig sein im Geist, das ist der Sinn der berufenen Heili-
gen. Der Alte lebt mitten unter dem Volk und niemand
weiß, wohin er geht. Wie übermäßig und echt ist seine
Vollkommenheit! Erfolg, Gewinn, Kunst und Ge-
schicklichkeit sind Dinge, die keinen Platz haben im Herzen

dieses Mannes. Was er sich nicht zum Ziel gesetzt, das
tut er nicht. Was nicht seiner Gesinnung entspricht, daS
führt er nicht aus. Und könnte er die Anerkennung der
ganzen Welt finden, er wird sie für etwas halten, über
das man stolz hinwegsehen muß. Und wird ihm der
Tadel der ganzen Welt drohen, er wird ihn für etwas
halten, das zufällig ist und nicht beachtet zu werden
braucht. Wer so erhaben ist über Lob und Tadel der Welt,
der ist ein Mensch, der völliges Leben besitzt. Demgegen-
über komme ich mir vor wie einer aus der Masse des
Volkes, der von Wind und Wellen umhergetrieben wird."

Der Philosoph singt einen Lobgesang auf einen alten
Mann, der seine Pflanzen mit einer Kanne begießt, statt
es sich leicht zu machen und sie mit einem Aiehbrunnen
zu bewässern. Er fand also wohl in der Welt der Bildung
und der Wissenschaft, bei den Beamten und den Staats-
männern, bei den Vornehmen und Reichen nicht einen
Mann, der ihm einen solchen Eindruck machte wie dieser
Alte; und die Ursache war nur, daß dieser Alte kein
Maschinenherz hatte und deshalb ein wirklicher Mensch
war. Als die Römer ihren Kaiser unter rohen Soldaten
suchten, unter Jllyriern, Thrakern und Germanen, statt
unter den Hochgebildeten, Reichen, Vornehmen, Ge-
lehrten, Staatsmannern und Beamten, da handelten sie
so, wie der alte chinesische Pbilosoph dachte. Sie brauch-
ten einen Kaiser, und ein Kaiser muß ein wirklicher
Mensch sein, er darf kein Maschinenherz haben.

Man muß nicht hinterm Pflug gegangen sein, um
ein wirklicher Mensch zu werden; man muß nur in allen
Dingen seines eigenen Lebens den Ausammenhang mit
der Natur behalten haben. Jch habe eben eine Geschichte
von einem heutigen Staatsmanne erzählt;in den Briefen
Bismarcks steht eine launige Erzählung von einer Reise
mit der Familie ins Seebad, weil ein Kind krank ist; die
Mutter nährt es selber, aber im Eisenbahnabteil ist es ihr
peinlich, die Brust zu entblößen, und der Vater muß das
Kind beruhigen. Der Mann, der so das natürliche Leben
durchlebt, kann ein Staatsmann werden; wenn man die
Grenzen Bismarcks feststellen will,so wird man sie wahr-
scheinlich überall dort finden, wo das natürliche Erleben
bei ihm nicht vorhanden war; er versagt, wie alle versagt
haben, wo die heutigen Austände des allgemeinen Ma-
schinenwesens beginnen, die eben ein Maschinenherz
voraussetzen, das dann nun doch wieder selbst die eigenen
Maschinenzustände nicht versteht; er war der Diener des
Königs von Preußen, er hatte für seinen Herrn Deutsch-
land geeinigt; das Neue, das aus diesem Deutschland sich
entwickelte, verstand er nicht mehr; noch niemand scheint
es verstanden zu haben: sollte es so verknittert sein, daß
selbst die heutigen Menschen noch zu einfältig wären, um
es zu fassen?

Die chincsische Erzählung hat noch einen Schluß.
Der Philosoph kommt nun auch noch zu seinem Lehrer,
zu Kung Dsi, der die große Wahrheit gelehrt hat, die
heute Ostwald lehrt; und der antwortet ihm: „Jener
Mann ist einer, der sich damit abgibt, die Grundsätze der
Urzeit zu pflegen." Ja, gewiß; das sind die Grundsätze
der Urzeit: so zu leben, daß man ein voller Mensch wird,
nicht eine Beziehung oder ein Verhältnis, daß nicht die
Dinge wichtiger werden wie man selber. Sehr schön
schildert Kung Dsi einen solchen, der ein voller Mensch

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