Aß'ltdeutsche Weihnacht.
Das Eingangstor der abendländischen Geschichte hangt in
zwei Angeln, die mehr als alles Spätere bedeuten: Das Morgen-
land vererbt Rom und dem Kaiser das Christentum; Rom wird
durch das also vererbte Christentum Herr der germanischen Völker
und begründet nach der antiken seine moderne Weltherrschast.
Christentum und Germanentum sind die Mächte der Neuzeit, und
so stark schlug damals das Herz der Geschichte, daß die beiden fast
gleichzeitig in das Römerreich einbrachen. Man braucht nicht
einmal andie mohammedanischeSintflutzu denken, die über Ieru-
salem und Alexandria, über Antiochia und Nizäa wegschwemmte,
das christliche Leben des Morgenlands ersäufend, um die ungeheure
Bedeutung zu erkennen, die der durch Rom vermitteltenBegegnung
vonChristentum und Germanentum innewohnte. Erst der deutsche
Christ wurde die bestimmende Weltmacht der Neuzeit.
Wer die Geschichte des ersten Iahrtausends kennt, weiß auch,
unter welchen Opfern der deutschen Seele die christliche Sendung
auferlegt wurde, das größte Opfer aber war dies, daß sie ihre
Herkunft verlor. Ulfilas hatte seine Bibel gotisch geschrieben, aber
als sich die beiden Mächte als römisches Papsttum und germanisches
Kaisertum eingesetzthatten, war die Erinnerung an Ulfilas vergessen
wie alle germanische Frühzeit. Die Sendlinge Roms waren Mönche,
und die Sprache des Christentums war Latein; das bedeutet für
uns Deutsche, daß unsere Bildung nicht aus dem Stamm wuchs,
daß sie uns mit einem fremden Reis aufgepfropft wurde. Nur von
hier aus läßt sich die brausende Fülle des deutschen Mittelalters
verstehen, die von den Lateinern deutlich genug in der Erinnerung
an Dietrich von Bern und die Seinen Gotik genannt wurde.
Wir haben einen langen und hihigen Streit erlebt, ob die
Gotik als deutsch oder nach ihrer Herkunft als französisch anzu-
sprechen sei; der Streit ist unnütz: Als der nordische d. h. der ger-
manische Geist in der Gotik das lateinische Stilgefühl überwand,
waren die nordischen Völker noch eins; bis ins dreizehnte Iahr-
hundert galt in Südfrankreich noch gotisches Recht (als ein Rest
jener §eit, da Toulouse eine Hauptstadt des Westgotenreichs war,
dem bekanntlich eine unverhältnismäßig längere Dauer als dem
Ostgotenreich Theoderichs beschieden war), um die Anfangswende
eben des dreizehnten Iahrhunderts aber kam der nordische Baustil
auf, den die Italiener gotisch nannten und der südlich der Alpen
kaum zum Leben kam.
Diese gotische Baukunst aber war stärker und schöner, als wir
es sonst erkennen können, die Mutter der Künste: das dreizehnte
Iahrhundert war die Zeit seiner Herrschaft in Deutschland, das
vierzehnte offenbarte seinen Geist in der deutschen Mystik, das
fünfzehnte brachte die Auswirkung der durch die Brüder van Eyk
begründeten gotischen Malerei. Gerade in der Auswirkung aber
offenbarte sich der germanische Geist am mächtigsten: nichts kann
aus der französischen Nachbarschaft gegen die Wort- und Geist-
gewalt der deutschen Mystiker gestellt werden (obwohl sie zweifellos
wie die gotische Baukunst in Bernhard von Clairvaux ihren fran-
zösischen Ursprung hatten), und in der gotischen Malerei endüch
erscheinen die Franzosen tatsächlich nur noch als Anhängsel.
Für Deutschland bedeuten erst diese Iahrhunderte die völlige
Verschmelzung mit dem Christentum; erst jetzt waren seine Säfte
durch die lateinischen Pfropfreiser durchgewachsen, und was wir
gemeinhin das deutsche Mittelalter nennen, ist seine gewaltige
Baumkrone. Wir wissen ja heute, daß diese Durchwachsung bis
ins Herz der Kirche ging, so daß ihre Feste (also die Angelpunkte
des kirchlichen Iahres) ausnahmslos in den Gebräuchen auf ger-
manische Herkunft zurückweisen; wie sehr dies auf das deutsche
Weihnachtsfest zutrifft, das ist der Gegenstand zahlloser scharf-
sinniger Beweisführungen gewesen.
Wenn uns deshalb eine dichterische und bildliche Darstellung
des deutschen Weihnachtsfestes aus jenen Iahrhunderten vor-
gelegt wird, wie es nun die Gesellschaft sür christliche Kunst in
München tut, so wird uns damit in der Geschichte der deutschen
Seele eines der größten, vielleicht das größte Kapitel aufgeschlagen;
ob wir uns Katholiken oder Protestanten heißen, wir schauen ehr-
fürchtig hinein und wissend: dies ist unsere Herkunft nicht, aber es
ist auch nicht der lateinische Sarg, in dem unsere Frühzeit durch
die Mönche vergraben wurde, es ist die Wiederkunft des Christen-
tums aus der germanischen Seele und zugleich seine herrlichste
Blüte, das erste Wunder einer Menschheit nach der Antike.
Das somit bezeichnete Werk ist von Paschalis Schmid gemacht
und „Als Herr Christ geboren ward" benannt. Das Latein ist darin
bis auf wenige Reste ausgeschieden, und die Reformation klingt
noch nicht hinein; es sei denn, daß man etwa aus Leisentritts
Gesangbuch von 1567 Martin Luthers Lied „Vom Himmel hoch"
wiedererkenne, oder daß man aus den evangelischen Erzählungen
des Passional schon deutlich genug den Quell fließen sehe, aus dem
Luthers Bibelübersetzung kam.
Es ist uns ja oft genug dargelegt worden, daß Luther in seiner
Bibelübersetzung der Schöpfer unserer Schriftsprache wurde.
Man braucht aber nur an den Meister Eckhart zu denken, um auch
schon zu wissen, wie bedingt das wahr ist; er und seine Schüler sind
die wirklichen Schöpfer, und wie stark sich die deutsche Sprache
neben Luther schon auswuchs, das zeigen jene Maienverse aus dem
16. Iahrhundert:
Dort oben auf dem Berge,
da rauscht der Wind,
da sihet Maria
und wieget ihr Kind.
Sie wiegt es mit ihrer schlohengelweißen Hand,
dazu braucht sie kein Wiegenband.
Und da wir schon einmal bei diesem Gegensah sind, sei es in
aller Deutlichkeit gesagt, daß wir uns durch die Reformation, d.h.
durch eine auf ihre Wirkung gerichtete Darstellung der Geschichte,
allzuleicht jenes deutsche Christentum auswischen, das vor ihr
war und im deutschen Gegensah zu den Lateinern zur Reformation
führen mußte. Die Gesellschaft für kirchliche Kunst in München
ist katholisch, und auch dieses ihrWerk muß als katholisch angesprochen
werden; aber ich möchte den Deutschen sehen, der nicht in tiefer
Rührung seine Heimat darin wiederfindet. Nicht im Schw.umsinn
der Romantiker — von dem sich diese Sammlung weise fernhält—,
sondern im Tageslicht einfältiger Betrachtung.
Soll ich nach diesem Hinweis noch im einzelnen ausführen,
wie reich das Buch ist! Man glaube mir, daß ich kein schöneres
sah in seiner Art. Not und Entbehrung ist um uns, hier ist Reichtum
im Inhalt und im Gewand; fast ungläubig sieht man die schönen
Seiten, auf gutes Papier mit all der Liebe gedruckt, zu der das
moderne Buchgewerbe in Deutschland fähig war, als der Krieg
kam. Hier ist keine Spur von ihm, hier ist Reichtum und Ruhe,
Gesinnung und Geschmack, hier ist eine Chronik der großen deutschen
Zeit, die durch keine spätere, weder durch den herrlichen Troh der
Reformation noch durch den Aufschwung um Goethe überglänzt
werden kann. Wer am Marienkult Anstoß nimmt — es gibt auch
derartig aufrechte Naturen —, möge es nicht zur Hand nehmen;
allen andern wird es als Offenbarung der deutschen Seele eine
heilige Freude geben. W. Schäfer.
er Zusammenbruch des deutschen Jdealismus.
Wir brachten im Ianuar-Februarhest 1919 eine län-
gere Arbeit von Leopold §iegler über den „Zusammen-
bruch des deutschen Idealismus" von Paul Ernst. Durch
eine Versäumnis des Derlags Georg Müller, München, kam
aber das Buch (die Kritik wurde nach einem Bürstenabzug
geschrieben) so spät in den Handel, daß unser Hinweis teilweise
wieder vergessen wnr. Das ist schade insosern, als es sich um eine
der besien deutschen Schriften unserer Zeit handelt. Paul Ernst
isi ja in erster Linie Dichter, und gerade Leopold Ziegler hatte in
der genannten Arbeit warme Worte für die Verbannung gefunden,
in der anscheinend jeder Geist von höherem Rang leben müsse.
Aber man braucht nur die Namen Lessing, Goethe, Schiller zu
nennen, um den Deutschen ins Gedächtnis zu rufen, daß ihre
Dichter zugleich lebendige Schriftsteller waren. Bei Paul Ernst
trifft dies sogar in dem Sinne zu, daß sich überhaupt nur wenige
unter den Lebenden mit ihm messen können. Freilich ist er zunächst
nur — um ihn zu scbachteln — ein Asthetiker; aber alles andere
eher als etwa ein Asthet. Sein Thema, das er abgewandelt hat
wie keiner, ist die Form; nur denkt er sich dabei etwas mehr als
unsere Stürmer, die als Formzertrümmerer aufbegehren, auch
mehr als eben jene Ästheten, denen die Form doch letzten Grundes
nur eine Art Kleidung scheint. Paul Ernst faßt den Begrisf philo-
sophisch, und so zufällig seine Beispiele zu sein scheinen, immer
weiß er seine Folgerungen zur letzten Höhe zu sieigern. So hätte
er sein Buch ebensogut den §usammenbruch des deutschen Form-
willens nennen könncn, weil es sich darin uin nichts anderes als
die glänzend belegte Behauptung handelt, daß im deutschen Idealis-
mus -— also in jener Bewegung, die wir die Zeit unserer Klassiker
nennen — der Formwille nicht ans Ziel gekommen sei.
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Das Eingangstor der abendländischen Geschichte hangt in
zwei Angeln, die mehr als alles Spätere bedeuten: Das Morgen-
land vererbt Rom und dem Kaiser das Christentum; Rom wird
durch das also vererbte Christentum Herr der germanischen Völker
und begründet nach der antiken seine moderne Weltherrschast.
Christentum und Germanentum sind die Mächte der Neuzeit, und
so stark schlug damals das Herz der Geschichte, daß die beiden fast
gleichzeitig in das Römerreich einbrachen. Man braucht nicht
einmal andie mohammedanischeSintflutzu denken, die über Ieru-
salem und Alexandria, über Antiochia und Nizäa wegschwemmte,
das christliche Leben des Morgenlands ersäufend, um die ungeheure
Bedeutung zu erkennen, die der durch Rom vermitteltenBegegnung
vonChristentum und Germanentum innewohnte. Erst der deutsche
Christ wurde die bestimmende Weltmacht der Neuzeit.
Wer die Geschichte des ersten Iahrtausends kennt, weiß auch,
unter welchen Opfern der deutschen Seele die christliche Sendung
auferlegt wurde, das größte Opfer aber war dies, daß sie ihre
Herkunft verlor. Ulfilas hatte seine Bibel gotisch geschrieben, aber
als sich die beiden Mächte als römisches Papsttum und germanisches
Kaisertum eingesetzthatten, war die Erinnerung an Ulfilas vergessen
wie alle germanische Frühzeit. Die Sendlinge Roms waren Mönche,
und die Sprache des Christentums war Latein; das bedeutet für
uns Deutsche, daß unsere Bildung nicht aus dem Stamm wuchs,
daß sie uns mit einem fremden Reis aufgepfropft wurde. Nur von
hier aus läßt sich die brausende Fülle des deutschen Mittelalters
verstehen, die von den Lateinern deutlich genug in der Erinnerung
an Dietrich von Bern und die Seinen Gotik genannt wurde.
Wir haben einen langen und hihigen Streit erlebt, ob die
Gotik als deutsch oder nach ihrer Herkunft als französisch anzu-
sprechen sei; der Streit ist unnütz: Als der nordische d. h. der ger-
manische Geist in der Gotik das lateinische Stilgefühl überwand,
waren die nordischen Völker noch eins; bis ins dreizehnte Iahr-
hundert galt in Südfrankreich noch gotisches Recht (als ein Rest
jener §eit, da Toulouse eine Hauptstadt des Westgotenreichs war,
dem bekanntlich eine unverhältnismäßig längere Dauer als dem
Ostgotenreich Theoderichs beschieden war), um die Anfangswende
eben des dreizehnten Iahrhunderts aber kam der nordische Baustil
auf, den die Italiener gotisch nannten und der südlich der Alpen
kaum zum Leben kam.
Diese gotische Baukunst aber war stärker und schöner, als wir
es sonst erkennen können, die Mutter der Künste: das dreizehnte
Iahrhundert war die Zeit seiner Herrschaft in Deutschland, das
vierzehnte offenbarte seinen Geist in der deutschen Mystik, das
fünfzehnte brachte die Auswirkung der durch die Brüder van Eyk
begründeten gotischen Malerei. Gerade in der Auswirkung aber
offenbarte sich der germanische Geist am mächtigsten: nichts kann
aus der französischen Nachbarschaft gegen die Wort- und Geist-
gewalt der deutschen Mystiker gestellt werden (obwohl sie zweifellos
wie die gotische Baukunst in Bernhard von Clairvaux ihren fran-
zösischen Ursprung hatten), und in der gotischen Malerei endüch
erscheinen die Franzosen tatsächlich nur noch als Anhängsel.
Für Deutschland bedeuten erst diese Iahrhunderte die völlige
Verschmelzung mit dem Christentum; erst jetzt waren seine Säfte
durch die lateinischen Pfropfreiser durchgewachsen, und was wir
gemeinhin das deutsche Mittelalter nennen, ist seine gewaltige
Baumkrone. Wir wissen ja heute, daß diese Durchwachsung bis
ins Herz der Kirche ging, so daß ihre Feste (also die Angelpunkte
des kirchlichen Iahres) ausnahmslos in den Gebräuchen auf ger-
manische Herkunft zurückweisen; wie sehr dies auf das deutsche
Weihnachtsfest zutrifft, das ist der Gegenstand zahlloser scharf-
sinniger Beweisführungen gewesen.
Wenn uns deshalb eine dichterische und bildliche Darstellung
des deutschen Weihnachtsfestes aus jenen Iahrhunderten vor-
gelegt wird, wie es nun die Gesellschaft sür christliche Kunst in
München tut, so wird uns damit in der Geschichte der deutschen
Seele eines der größten, vielleicht das größte Kapitel aufgeschlagen;
ob wir uns Katholiken oder Protestanten heißen, wir schauen ehr-
fürchtig hinein und wissend: dies ist unsere Herkunft nicht, aber es
ist auch nicht der lateinische Sarg, in dem unsere Frühzeit durch
die Mönche vergraben wurde, es ist die Wiederkunft des Christen-
tums aus der germanischen Seele und zugleich seine herrlichste
Blüte, das erste Wunder einer Menschheit nach der Antike.
Das somit bezeichnete Werk ist von Paschalis Schmid gemacht
und „Als Herr Christ geboren ward" benannt. Das Latein ist darin
bis auf wenige Reste ausgeschieden, und die Reformation klingt
noch nicht hinein; es sei denn, daß man etwa aus Leisentritts
Gesangbuch von 1567 Martin Luthers Lied „Vom Himmel hoch"
wiedererkenne, oder daß man aus den evangelischen Erzählungen
des Passional schon deutlich genug den Quell fließen sehe, aus dem
Luthers Bibelübersetzung kam.
Es ist uns ja oft genug dargelegt worden, daß Luther in seiner
Bibelübersetzung der Schöpfer unserer Schriftsprache wurde.
Man braucht aber nur an den Meister Eckhart zu denken, um auch
schon zu wissen, wie bedingt das wahr ist; er und seine Schüler sind
die wirklichen Schöpfer, und wie stark sich die deutsche Sprache
neben Luther schon auswuchs, das zeigen jene Maienverse aus dem
16. Iahrhundert:
Dort oben auf dem Berge,
da rauscht der Wind,
da sihet Maria
und wieget ihr Kind.
Sie wiegt es mit ihrer schlohengelweißen Hand,
dazu braucht sie kein Wiegenband.
Und da wir schon einmal bei diesem Gegensah sind, sei es in
aller Deutlichkeit gesagt, daß wir uns durch die Reformation, d.h.
durch eine auf ihre Wirkung gerichtete Darstellung der Geschichte,
allzuleicht jenes deutsche Christentum auswischen, das vor ihr
war und im deutschen Gegensah zu den Lateinern zur Reformation
führen mußte. Die Gesellschaft für kirchliche Kunst in München
ist katholisch, und auch dieses ihrWerk muß als katholisch angesprochen
werden; aber ich möchte den Deutschen sehen, der nicht in tiefer
Rührung seine Heimat darin wiederfindet. Nicht im Schw.umsinn
der Romantiker — von dem sich diese Sammlung weise fernhält—,
sondern im Tageslicht einfältiger Betrachtung.
Soll ich nach diesem Hinweis noch im einzelnen ausführen,
wie reich das Buch ist! Man glaube mir, daß ich kein schöneres
sah in seiner Art. Not und Entbehrung ist um uns, hier ist Reichtum
im Inhalt und im Gewand; fast ungläubig sieht man die schönen
Seiten, auf gutes Papier mit all der Liebe gedruckt, zu der das
moderne Buchgewerbe in Deutschland fähig war, als der Krieg
kam. Hier ist keine Spur von ihm, hier ist Reichtum und Ruhe,
Gesinnung und Geschmack, hier ist eine Chronik der großen deutschen
Zeit, die durch keine spätere, weder durch den herrlichen Troh der
Reformation noch durch den Aufschwung um Goethe überglänzt
werden kann. Wer am Marienkult Anstoß nimmt — es gibt auch
derartig aufrechte Naturen —, möge es nicht zur Hand nehmen;
allen andern wird es als Offenbarung der deutschen Seele eine
heilige Freude geben. W. Schäfer.
er Zusammenbruch des deutschen Jdealismus.
Wir brachten im Ianuar-Februarhest 1919 eine län-
gere Arbeit von Leopold §iegler über den „Zusammen-
bruch des deutschen Idealismus" von Paul Ernst. Durch
eine Versäumnis des Derlags Georg Müller, München, kam
aber das Buch (die Kritik wurde nach einem Bürstenabzug
geschrieben) so spät in den Handel, daß unser Hinweis teilweise
wieder vergessen wnr. Das ist schade insosern, als es sich um eine
der besien deutschen Schriften unserer Zeit handelt. Paul Ernst
isi ja in erster Linie Dichter, und gerade Leopold Ziegler hatte in
der genannten Arbeit warme Worte für die Verbannung gefunden,
in der anscheinend jeder Geist von höherem Rang leben müsse.
Aber man braucht nur die Namen Lessing, Goethe, Schiller zu
nennen, um den Deutschen ins Gedächtnis zu rufen, daß ihre
Dichter zugleich lebendige Schriftsteller waren. Bei Paul Ernst
trifft dies sogar in dem Sinne zu, daß sich überhaupt nur wenige
unter den Lebenden mit ihm messen können. Freilich ist er zunächst
nur — um ihn zu scbachteln — ein Asthetiker; aber alles andere
eher als etwa ein Asthet. Sein Thema, das er abgewandelt hat
wie keiner, ist die Form; nur denkt er sich dabei etwas mehr als
unsere Stürmer, die als Formzertrümmerer aufbegehren, auch
mehr als eben jene Ästheten, denen die Form doch letzten Grundes
nur eine Art Kleidung scheint. Paul Ernst faßt den Begrisf philo-
sophisch, und so zufällig seine Beispiele zu sein scheinen, immer
weiß er seine Folgerungen zur letzten Höhe zu sieigern. So hätte
er sein Buch ebensogut den §usammenbruch des deutschen Form-
willens nennen könncn, weil es sich darin uin nichts anderes als
die glänzend belegte Behauptung handelt, daß im deutschen Idealis-
mus -— also in jener Bewegung, die wir die Zeit unserer Klassiker
nennen — der Formwille nicht ans Ziel gekommen sei.
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