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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 8.1917-1918

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Walden, Herwarth: Pretzfühler
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https://doi.org/10.11588/diglit.37114#0008

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Pre&fühler
Der Kenner
Herr Oskar B i e hält sich lür einen Kenner, weil er früher
im Berliner Börsencourier und heute noch in der Neuen Rund-
schau über Malerei schreibt. Wohin will unsere Malerei, fragt
er sich in der Neuen Rundschau und gibt sich selbst eine Ant-
wort, die mehr als fraglich ist. Er hat zunächst die Güte, den
Lesern der Neuen Rundschau zu berichten, was Der Sturm ist:
„Der Sturm, die betriebsame und rührige Zentrale für letzte
Kunst, eröffnete die fünfzigste Austeilung und bot bei dieser
Gelegenheit eine Gesamtschau der Jüngsten." Der älteste Kri-
tiker blickt auf sich zurück: „Für Neulinge ist es gut, sich zu
belehren; für Kenner gut, sich einmal zu fragen, wie weit das
gediehen ist und welche Aussichten es macht." Der Neuling
Oskar Bie belehrt sich bei dem Kenner Oskar Bie, der Aussich-
ten macht, statt Aussichten zu sehen. Herr Oskar Bie könnte
sich auch denken, daß man einst sagen wird, an dieser Krippe
sei die neue Kunst geboren worden." Herr Bie bleibt an seiner
alten Krippe stehen: „Bewegung ist da, und viel Reflex in
ästethiesierenden Abhandlungen und Polemiken besserer Jour-
nale. Aber fragen wir die Verteidiger: Nun sind diese Bilder
wirklich, was ihr verlangt? So sagen sie: Gewiß noch nicht."
Diese Verteidiger, die das sagen, können nur die Herren Bie
und Stahl sein. Wfeil sie etwas von den Bildern verlangen,
während wir, viel bescheidener, nur Bilder verlangen. „Und
fragen wir, immer wieder neugierig die Bilder selbst, so sagen
sie immer wieder Nein." Sollen Bilder etwa Herrn Professor
Bie bejahen? „Es ist ein unheimliches Gerede um eine Sache,
die wohl Lebensmut, aber keine Lebensmöglichkeit bewiesen
hat. Ein Zustand, bezeichnend für unsere Zeit, die so viel vom
Willen spricht, daß sie nicht mehr dazu kommt, zu wollen."
Dieser letzte Satz lag noch im Zettelkasten des Herrn Pro-
fessors aus der kleinen Zeit. Denn die große Zeit spricht nicht
mehr von dem Willen, sie will, wie es sonst in besseren Jour-
nalen beißt. Lebensmut beweist immer Lebensmöglichkeit.
Freilich will die Kunst, nicht einmal die letzte, nach Art des
Herrn Professors Bie leben. Das Leben der Kunst ist Kunst,
und nicht die Kunst des Lebens, das überhaupt keine Kunst ist
und das von Herausgebern neuer Rundschauen stets an der
Krippe verschlafen wurde. „Die ganze futuristische, kubistische,
expressionistische Bewegung vollzieht sich in einem Kreise von
Literatur und Atelierkunst, der ganz für sich bleibt und jede
Beziehung zur bevölkerten Erde abgebrochen hat." Nur ein
Kenner wie Herr Bie kann einen Kreis sehen, der Be-
ziehungen abbricht. Kenner pflegen allerdings stets Beziehun-
gen zu unterhalten, und das Unterhalten von Beziehungen nen-
nen sie Kunst. Aber die bevölkerte Erde glaubt es ihnen nicht
mehr. Die Kunst befindet sich nicht in einem Kriegszustand zur
bevölkerten Erde, die Kunst führt einen Verteidigungskrieg
gegen die Herren, die der bevölkerten Erde Oel liefern wollen.
Sie wollen Oel statt Bilder geben. Sie wollen die Wirklichkeit
in Oel festhalten, weil sie die Wirklichkeit nicht fassen können.
Oel auf Leinwand ist gut gegen Schnupfen. Muß man aber
immer wirklich verschnupft sein, sollte nicht vielmehr die Wirk-
lichkeit einmal verschnupft sein, daß man sie ewig nur mit einem
Pinsel behandelt. Herr Bie aber ist für den Schnupfen: „Positiv
ist der Ausgangspunkt: Der Widerwillen gegen das ewige Nach-
malen der Wirklichkeit. Man kann das mitempfinden, ohne
es für mehr zu halten als einen billigen Leichtsinn. Denn alles
Realistische, soweit es sich vom Gegenständlichen abhängig
macht, ist nicht Bequemlichkeit, sondern ein Ringen um die
Natur, ein Schöpfungsprozeß der Ueberwindung des Objekts,
der das Leben der Kunst ist." Negativ ist das Eingangsfrage-
zeichen des Herrn Professors in die Kunst. Er hält „das" für
einen billigen Leichtsinn, der ihm aber teuer zu stehen kommt.
Er findet sich nämlich nicht in die Kunst hinein. Man erfährt
aber durch ihn, was das Leben der Kunst ist, nämlich ein Ring-
kampf mit der Materie und ein Schöpfungsprozeß der Ueber-
windung des Objekts. Dieser wirkliche Bie hat eine etwas un-

naturalistische Vorstellung von der Schöpfung. Schöpfung ist
eine Ausstoßung und nicht Ueberwindung des Objekts. Die
Mutter ringt nicht mit dem Kinde. Das Kind entringt sich ihr.
Der Vater Bie hat es in der Naturgeschichte auch noch nicht
weit gebracht, trotzdem er die Hände über die letzte Kunst
ringen muß. „Im Gewinnen dieser Beziehung zur Wirklichkeit
liegt der ganze leibliche innere verzückende Wert der Kunst.
Löst man diese Angel einfach aus und wirft sie weg, so fliegt
die Kunst ins Beziehungslose, ins Herzlose, ins Kalte und ledig-
lich Geistige." Das gute Herz, dieses liebe Gemüt. Seine Be-
ziehung zur Kunst ist eine Angel. Eine schwache Beziehung.
Nimmt man ihm die Angel fort, so fliegt ihm die Kunst fort,
nicht einmal den Köder hat er übrig, mit dem er die Kunst
fangen wollte. Man soll sich eben nicht an Angeln halten, wie
leicht kann ein starker Sturm sie einem alten Manne entwinden,
wie schwer beißt ein seltener Fisch den faulen Köder. Der
Fisch ohne Angel hat mehr Lebensmöglichkeit, wenn es auch
herzlos ist, einem Professor einen guten Happen zu nehmen.
Er bleibt auf seinem Angelpunkt: „Die Kunst erhält statt der
eroberten Freiheit die willkürliche und betrunkene Freiheit."
Die Freiheit an der Angel hat einen Widerhaken und ist die
Kunst deshalb betrunken, wenn sie Herrn Professor Bie nicht
berauscht. Und ist die Kunst deshalb willkürlich, wenn Herr
Professor Bie nicht willkürlich verspeisen kann. „Und die
Kunst löst sich in dem selben Maße, in dem sie den Gegenstand
bloß beobachtet, von der Kausalität menschlichen Gefühls und
Interesses." Ein Hering in der Hand ist besser als eine Forelle
im Bache. Wie oft bestimmt die Kautätigkeit die Kausalität
menschlichen Gefühls und Interesses.
Aber etwas Versöhnliches findet Herr Professor Bie den-
noch in „dieser Kunst". Nämlich, daß es Richtungen gibt. „Die
Futuristen, die die Dinge dieser Welt immerhin nicht leugnen,
sondern nur phantastisch durcheinander werfen." Man kann
wirklich zufrieden sein, daß die Futuristen die Dinge dieses
Professors nicht leugnen. Wenn man sie ihm auch durchein-
ander wirft, das läßt er sich in seinem billigen Leichtsinn noch
gefallen. Aber, Herr Professor, vielleicht sehen Sie nur die
Oberfläche. Vielleicht sind die Dinge gar nicht so durcheinander
geworfen, wie es jemandem scheinen kann, der den Grund dieser
Dinge nur durch einen Angelhaken fühlt. Was Herr Professor
Bie nicht mehr sieht, ist für ihn Dekoration. Wenn andere
Musik nicht hören, ist sie für sie Geräusch. Wenn andere Dich-
tung nicht verstehen, ist sie für sie Wort. Diese Methode ist
so alt, wie Zeitungskritiker es nie werden können. Herr Pro-
fessor Bie findet überall das Ende, weil er einen Anfang kennt.
Kunst aber steht jenseits von Anfang und Ende.
Hierauf gibt Herr Professor Bie den größten Künstlern
unserer Zeit: Marc Chagall, Paul Klee, Jacoba von Heemskerck?
Campendonk, Marc, Kandinsky eine Gebrauchsanweisung, wie
sie ihm zu seiner Angel wieder verhelfen können. Diese Künst-
ler sind aber so herzlos, daß sie ihn in das erstbeste Bilder-
geschäft verweisen. Warum schweift der alte Mann in die
Ferne, wo ihm doch sein Gutes so nahe liegt.
Hierauf kommt seine Moral von seiner Geschichte: „Eine
solche Uebersicht beweist, daß die ganze Revolution stecken
geblieben ist. Es ist seit langem kein Fortschritt zu bemerken,
es ist keine Klarheit, es ist Systemlosigkeit und Zersetzung
durch Theorie, sicherlich auch unberechtigte Prätention. Die
Entwicklung ist an einen Wendepunkt gelangt." Eine Revo-
lution bleibt nie stecken. Nur der Rundschauer bleibt es, weil
er an dem rauschenden Wasser ruhevoll nach der Angel sieht,
warm bis ans Herz hinan. Kunst kennt keinen Fortschritt. Nur
der Kritiker schreitet fort. Auch die Entwicklung des Herrn
Professors Bie ist an ein Wendekomma gelangt. 1913 schrieb er
über Paul Klee: „Paul Klee ist derjenige, der das Gerücht von
den Max und Moritz-Zeichnungen verursacht hat." 1917 heißt
es schon: „Paul Klee hat feine gekritzelte, schüchtern stili-
sierte Zeichnungen von allerlei menschlichen und tierischen
Dingen." 1912 schrieb er über die Futuristen: ,,. . . wird nun
erst die allgemeine Aufmerksamkeit auf die törichten Bestre-
bungen der sogenannten Futuristen lenken und diese Vereini-

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