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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 8.1917-1918

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Erstes Heft
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Ring, Thomas: Gedichte
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Graf, Oskar Maria: Die visionären Ekstasen des Dichters J. M. Tullian: nebst Chronik von Anfang und Ende
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https://doi.org/10.11588/diglit.37114#0016

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Zermürben gräbt und gräbt
Mondwieger Strahl erstirbt
sternträume Segel kentern
gewürgt von Salzstarren Tränen
Wolken letzen zwänge Felsen
Dumpie dünstet ächze Klamm
Kreisch Hattert Krieg
aufstürmend in das All
Heere donnern sturzberauscht
zerbranden wirre Knäuel
' Schaum des Zorns umflutet Stahl
blutrauschgepeitscht
umflackert sträube zage Hände
anklatscht versunken träume Stirn
Packen würgt
und krammt und wühlt und krallt
zerblättert Sehnen Liebe Traum
Verbluten tropft
und tränt ^
Schwirrfaucher Donner schneidet Nebelschwaden
Zerstampfen fetzt
Zersplittern wirbelt Grausen
Die Berge bersten
Knattern übertaumelt Fels
Zerrissene Leiber kollern in die Nacht
Zerfetzen stampft
und stampft


Die visionären Ekstasen des Dichters
]. M. TuHian

nebst Chronik von Anfang und Ende
Oskar Graf-Berg
Für Georg Schhmpis EiMer
Die Herkunft
So zu lesen un Klassenbuch Jahrgang 1884 der Wartenek-
schen Werktagsschule:
„Blasius Hinz {4. Schuljahr) fiel vom Gerüst des im Bau
begriffenen Brauhauses Mertelfing, erlitt Gehirnerschütterung,
verlor Sprache und Gehör. Elterlicherseits entschuldigt."
„Es frommt nicht, sich ein schadenfroh Lachen anzugewöh-
nen über nachbarlich Unglück. Sintemalen man selbst Nachbar
ist" soll sich Hochwürden Herr Pfarrer Mair darüber ausge-
lassen haben. . .
Und ferner: Im Register der Irrenanstalt Flamendingen
1889: „Blasius Hinz, gebürtig aus Mertelfing, gemeindlichen An-
ordnungen zufolge eingeliefert. Zur weiteren Behandlung. . . ."
Derselbe Jahrgang 1895: „Blasius Hinz auf elterliche Verant-
wortung entlassen."
Solchermaßen wiederum hört man ungefähr an Biertischen
in Mertelfing: „Ja, die Hinzens! der Blasius! Ist ein merk-
würdig Stück mit ihm. Und hätt sich der besessene Schneider
nicht aufgehängt, seiner Lebtag nimmermehr wär der Bub zum
Sprechen gekommen. Ja, ja, der Schreck!"
Oder, es sei fast was von einer unterirdischen Hexerei im
Hinzengeschlecht, der Vater ein Sonderling, die Mutter eine
Betschwester, wie es keine zweite gibt, die Großeltern Süff-
linge, väterlicherseits ein Mädchenmörder, ein Landstreicher,
zwei Geschwister verschollen in Amerika drinnen, auf der
Mutterseite Geizhälse und bigotte Gestalten, ja sogar ein paar
Selbstmörder und einen wütigen Herrgottschnitzer, dem sein
Geld wo in einer Kirche stecke. Anlässe genug also.
„Aber", aus verwichtigten Bauemgesichtem, „es ist und
bleibt ein Wunder, wie er auf einmal heimgekommen ist, der

Bub, schwitzend und brüllend, wie er da auf einmal reden
konnte." Und dann die geschwänzte Betrachtweise: „Wer da
nicht an einen Gott glaubt, der verdients zehntausend Jahr in
der Höll zu kochen." Man begegnet bei dererlei Ge-
sprächen aufschnaubenden Gesichtern, denen man das Maß von
Gespanntheit ablesen kann, das ein ehrenwertes Gemeinde-
mitglied, das was zu sagen hat, erfüllt, wenns drauf ankommt,
daß er dann nicht später einmal was gibt für den Armenpfleg-
schaftsrat und das Gemeindehaus, tja!
„Die alte Weberin hat eben doch recht gehabt" sagt dann
das bröselige GwöMhansgesicht. Und der Fischer, der wo so
massig imNischerl sitzt, wie angepappt, faucht auf: „Gehts mir
mit dieser alten Hex!" Man sollte den Blasius nur gescheidt
angesehen haben, bevor er verschwunden ist. ... Zu selbiger
Zeit tauchen auch schon in den Polizeiblättern Berichte auf.
Gerüchte machen sich in Mertelfing breit. Das Niedereitelfinger
Bezirksblatt warnt vor einem gewissen Blasius, der landstrei-
chend und heustadelbewohnend umhervagiert und die Gewohn-
heit habe, sich fremde Namen beizulegen. Dann ist es, wie ein
Wisch. Stumm.
Neuerdingliche Nachforschungen haben ergeben, daß der
nunmehr gefallene Dichter J. M. Tullian identisch ist mit dem
Dorfidioten von Mertelfing und dem gewissen Landstreicher
Blasius, der die Gewohnheit habe, wie man solches also lesen
mag im wohllöblichen Niedereitelfinger Polizeiblatt. Besonders
hervorzuheben sind auch noch die bemerkenswerten, äußerst
aufschlußreichen Berichte des Nervenarztes Kanneder-Flamen-
dingen.
Die fortwälzende Zeit ist die beste Totengräberin und wie
man so sagt, hat sie viel gemeinsam mit dicken Spinnweb-
häuten —: Das Ueberschleiern und Vergessenlassen. Aber, und
darin muß der entzückte Chronist jubelig sein zartbesaitetes
Herz für Herrn Schullehrer Mailinger in Wartenek schlagen
lassen und voll und ganz anerkennen. Nämlich —: „Aber, hat
der Herr Schullehrer Mailinger gesagt bei der mehr als merk-
würdigen damaligen Hiobspost vom Felde her nach dem er-
schreckten Mertelfing und der darauffolgenden Totenfeier des
Blasius Hinz, vulgo Julius Magus TuHian, also: „Aber" sagte
er, „seltsam sind die Menschenwege und das Seltsame hat Reiz!"
Und in diesem Falle für den wonniglich angerührten Chro-
nisten. Wir aber, die wir versuchen, ein verrätseltes Genie-
werk den Klauen moderner Vergessenheit zu entreißen, wir
können, weil wir voll tiefer Trauer noch einmal die liebens-
würdige Gestalt TuHians vor unseren Augen leibhaftig und
sprudelnd lebendig aufstehen lassen, uns des schmerzliche*
Ausrufes nicht enthalten: „O, Ironie des Schicksals, im Mertel-
finger Dorfidioten den großen Dichter Julius Magus Tullian
verkörpert zu sehen!" Und falten vor solchem erschüttert die
Hände! TuHian selbst würde diese Einmischung und das Nach-
tasten in seine gewiß merkwürdigen Lebensgänge mit einem:
„Lassen wir das" und der Paraphrase: „Es ist eine Gemein-
heit, sich in das Erleben eines Menschen zu mischen", beiseite-
geschoben haben. Schon wegen des Geschmacks, und justa-
ment er doch selber einmal seinen Lebensgang folgend aufzu-
zeichnen versuchte: „Es war zur selbigen Zeit als der Umwerter
aller Werte über schmale Brücken hopste und in trunkene
Landschaft mit Pan laue Flöte pfiff in linden Abend" — gleich
aber wieder abgebrochen und dick und resolut geschrieben, wie
Abwehr, oder Besinnen:
„Umwertung aller Werte? Beweis, daß noch Werte sind!
Hinfälligkeit, Verirren im Begriffe!"
Jenun, man ist ein Dichter!
Die Ekstasen
„Geliebte Philosophen! Es ist ein Hühnerei geplatzt, Er-
eignis genug, um ohnmächtig zu werden!
O, dunkelrote Gassen, flieht doch nicht!
Ein schöngetäfeltes Zimmer mit überladenem Mobilar.
Hier hockt wo die Absicht: Man will präsentieren, zugleich

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