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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 8.1917-1918

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Zweites Heft
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Schreyer, Lothar: Das Bühnenkunstwerk
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https://doi.org/10.11588/diglit.37114#0024

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Das Bühnenkunstwerk
Lothar Sdhreyer
Die Wirklichkeit des Geistes
Wir wollen das Reich des Geistes errichten.
Das Reich des Geistes hat die Weit ergriffen.
Wir sind nicht wir.
In uns wächst der Stern, der über uns leuchtet. Es ist kein
Märchen, den Mond vom Himmel zu holen. Was die Hände nie
greifen, was der Verstand nie faßt, wird offenbar.
Die Stunde der Offenbarung ist angebrochen. Die Zungen
der Verkündigung reden. Sie reden in uns.
Glücklich, die wir reden dürfen!

Die Sehnsucht nach Geistigkeit ist der Weg der Mensch-
heit. Wir sind Werkzeug und Werk der Erfüllung. Die uner-
füllte Sehnsucht ist das Reich des Geistes, die Erfüllung das
Werk des erfüllten Menschen. Der geisterfüllte Mensch ist das
Reich. Der endliche Mensch wird die Unendlichkeit.
Das Werk ist. Das Werk wirkt die Wirklichkeit. Die
Wirklichkeit wirkt das Werk.
Das geistige Reich ist eine Wirklichkeit wie das natürliche
Reich, Nicht nur die Natur ist wirklich. Die Natur allein
ist nicht die Wirklichkeit. Die Natur wirkt nicht ohne den'
Geist. Die Natur ist ein Werk des Geistes. Wir sind in das
Werk gewirkt.
Nur der Geist vermag den Geist unmittelbar zu erkennen.
Die unmittelbare Erkenntnis ist die Offenbarung.
Die mittelbare Erkenntnis erkennt nicht. Sie lernt das
Bekannte kennen und lehrt es kennen. Lehrer und Schüler
erwarten, daß die Bekanntschaft erkenntlich ist und eine Er-
kenntnis als Lohn der Mühe gibt. Den Wartenden flieht das Ziel.
Seine ganze Mühe ist, Mittel um sich aufzubauen, bis er aller
Mittel bar ist, eine unmittelbare Erkenntnis zu haben. Sie wird
nie als Lohn gegeben. Sie gibt sich als Gabe.
Kein Mittel führt zur Erkenntnis, aber die Erkenntnis führt
das Mittel zur Gestalt.
Die Gestalt ist das Mittel des Geistes.
Die Offenbarung ist Gestalt.
Die Gestalt ist die Erkenntnis.

Nicht Erkennende sind die Wissenden und Glaubenden. Der
Wissende weiß nur von mittelbarer Geistigkeit, die er sieht.
Der Glaubende glaubt an die unmittelbare Geistigkeit, die er
nicht sieht. Die unmittelbare Geistigkeit sieht nur der Erken-
nende. Er weiß kein Wissen. Er glaubt keinen Glauben. Er
sieht das Gesicht.
Das Gesicht ist die Offenbarung. Die Offenbarung ist
Wirklichkeit. Der Erkennende sieht das Wunder als Gestalt.
Der Gläubige glaubt an das Wunder, ohne die Gestalt zu sehen.
Der Wissende sieht die Gestalt, ohne das Wunder zu sehen.
Das Wissen ist kein Erkennen. Aber die Gestalt des Wis-
sens erkennt. Die Wissenschaft selbst ist ein untaugliches Mittel
zur Erkenntnis des Geistes. Das Reich des Geistes verkündet
sich in der Gestalt der Wissenschaft.
Der Glaube hat mit Erkennen nichts zu schaffen. Der Glaube
ist ethische Forderung der Religion. Der Glaube ist bewußte
Täuschung über das mittelbare und unmittelbare Erkennen.
Der Glaube gibt vor, in das Reich des Geistes zu führen. Ein
Willensakt tritt an Stelle des Schauens. Der Gläubige will das
Reich des Geistes leben, der Erkennende erlebt es. Der Gläu-
bige sucht das Reich des Geistes im Reich der Natur zu ver-
wirklichen. Das Reich des Geistes ist aber schon eine Wirk-
lichkeit. Sie braucht nicht erst verwirklicht zu werden. Das
Reich des Geistes ist der Wirklichkeit der Natur fremd. Der
Erkennende erkennt, daß keine natürliche Handlung eine geistige

Handlung sein kann. Keine geistige Handlung kann durch eine
natürliche nachgebildet werden. Aber die geistige Handlung
bildet die natürliche. Die geistige Handlung überwindet die na-
türliche. Das geistige Reich, in das Reich der Natur gestellt, ver-
nichtet die Natur. Der Glaube meint, die Natur in Geist zu ver-
wandeln. Aber er zerstört den Menschen. Die auf den Glauben
gegründete Religion zerstört das Leben. Die auf das Schauen
gegründete Religion erhält das Leben. Denn sie dient Natur und
Geist. Unser Leben ist ein Leben der Natur wie des Geistes.
Wir sind endlich und unendlich. Wir lieben die Natur. Wir
lieben den Geist. Denn wir sind lebendige Geister.
Wir wollen nicht die Natur zertrümmern; denn wir sind
ihr hingegeben. Wir können sie nicht zertrümmern. Der Geist
kann nicht zertrümmert werden; denn wir sind ihm hingegeben.
Wir wollen ihn bekennen.
Das Bekenntnis des Erkennenden ist seine Erkenntnis.
Die Erkenntnis erkennt:
Wir sind endlich in der Natur. Wir sind unendlich im Geist.
Wir haben ein Maß in der Natur. Wir sind ohne Maß im
Geist.
Wir haben in der Natur eine Gestalt, im Geist Gestalten
ohne Zahl.
Wir leben in der Natur. Wir erleben im Geist.
Wir lieben und leiden in der Natur. Wir schauen im Geist.
Wir handeln in der Natur. Wir erkennen im Geist.
Wir sehnen in der Natur. Wir sind erfüllt im Geist.
Wir sind sinnlich in der Natur. Wir sind sinnenlos im Geist.
Wir ringen nach Verständnis in der Natur. Wir sind dem
Verständnis entrungen im Geist.
Wir schaffen in der Natur. Wir werden geschaffen im Geist.
Wir greifen die Natur. Wir sind ergriffen, vom Geist.
Wir sind getrennt in der Natur. Wir sind eins im Geist.
Wir werden in der Natur. Wir sind im Geist.
Wir erkennen beschränkt in der Natur. Wir haben schran-
kenlose Erkenntnis im Geist.
Wir sind sterblich in der Natur. Wir sind unsterblich im
Geist.
* , *
Der lebendige Geist führt ein geistiges Leben. Uns hat
nicht nur das Leben ergriffen. Auch der Geist hat uns er-
griffen. Aber wir haben lang nur das Leben ergriffen. Nun
wollen wir auch wieder das Geistige ergreifen. Wir wollen
im Natürlichen Natur sein, im Geistigen Geist. Wir wollen das
Natürliche leben, das Geistige erleben.
Das Erlebnis der Erkenntnis ist Offenbarung.
Das Erlebnis ist Gefühlsreiz.
Erkenntnis ist Gefühlsreiz durch Begreifen der Begriffe.
Offenbarung ist Gesicht. Gesicht ist nicht Anschauung.
Der Begriff öffnet seine Gestalt. Er wird nicht nur begriffen.
Er ergreift uns so, daß wir ihn ergreifen.
Es ist unsere Sehnsucht, unendlich, maßlos, zahllos, eins zu
sein, losgelöst von Sinnen und Verstand, schrankenlos in der
Erkenntnis zu sein, unsterblich zu sein.
Wir sind es.
Diese Erkenntnis soll allen Menschen wieder werden. Da-
rum wollen wir das Reich des Geistes errichten.
Der Wille der Zeit fordert das neue und ewig alte Reich.
Eine Weltanschauung gibt uns keine Erkenntnis mehr. Wir
wollen die Welt nicht mehr anschauen. Wir wollen die Welt
sein. Denn wir sind die Welt. Wir sind nicht Schöpfer. Wir
sind Geschöpf.
Die Natur hat nichts mit der großen Sehnsucht zu tun,
Die Sehnsucht tut das Natürliche ab. Die Natur schließt uns
ein. Wir aber sind mehr als das Natürliche und wollen das
andere, das Reich des Geistes uns öffnen. Doch der Wille ist
nicht der Schlüssel. Die Sehnsucht öffnet das Reich. Die Sehn-
sucht ist willenlos. Der Wille ist sehnsuchtslos. Die Sehnsucht
ist in sich. Der Wille ist in der Tat. Durch die Tat das Reich
des Geistes errichten zu wollen, ist der große Irrtum der Welt-
anschauung. Die Welt kann nicht angeschaut werden. Das
Geistige kann nicht getan werden.
 
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