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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 8.1917-1918

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Zweites Heft
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Schreyer, Lothar: Das Bühnenkunstwerk
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https://doi.org/10.11588/diglit.37114#0026

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Kunstwerk. Jedes Material kann von jedem Mittel gestaltet
werden.
Es gibt keine Grenzen der Kunst.
Es gibt keine Künste, sondern Kunstwerke.
Es gibt keinen Materialstil.
Es gibt keinen Kunststil, sondern Künstler.
Der Machtwille zerreißt die Grenzen der Kunst, der Künste,
des Materials durch das Kunstwerk des Künstlers zur Kunst.
Der Rhythmus wirkt von Raum in Zeit, von Zeit in Raum.
Sein Werk aus Raum und Zeit ist raumlos und zeitlos.

Das Kunstwerk bricht die Dimensionen des Raumes und
der Zeit durch die Dimensionen des Raumes und der Zeit.
Das Formkunstwerk ragt mit drei begreifbaren Dimensi-
onen in die unbegreifbaren Dimensionen.
Das Farbformkunstwerk ragt mit den Dimensionen des
Raumes in die Dimensionen der Zeit.
Das Bewegungskunstwerk und das Tonkunstwerk ragen
mit den Dimensionen der Zeit in die Dimensionen des Raumes.
Das Bewegungskunstwerk und das Tonkunstwerk ragen
mit den Dimensionen der Zeit in die unbegreiflichen Dimensi-
onen.
Es gibt nicht nur eine vierte Dimension, sondern unzählbare.
Das Kunstwerk kündet mit den Dimensionen des Raumes
und der Zeit die dem natürlichen Begreifen verschlossenen.
Die natürlichen Dimensionen künden die geistigen Dimensionen.
*
Das Werk des Künstlers wirkt die Kunde der geistigen
Dimensionen in die natürlichen Dimensionen. Die natürlichen
Dimensionen der Wbrkgestalt sind die Reizmittel, deren Genuß
den Nichtkünstler fähig macht, die Kunde zu erkennen.
Die äußere Gestalt, die natürliche Dimension des Kunst-
werkes, wird genossen. Die innere Gestalt, die geistige Dimen-
sion, wird erlebt. Die Voraussetzung des Erlebnisses ist der
Genuß. Der genießende Mensch nimmt die Reizmittel in sich
auf. Nur der Mensch, der die äußere Gestalt des Kunstwerkes
so aufnimmt, daß sie von seinen Sinnen und von seinem Sinn
nicht mehr wahrgenommen wird, erkennt die innere Gestalt,
erlebt die Offenbarung des Kunstwerkes. Die äußere Gestalt
ist begreifbar nach der Wirkung der Mittel auf Sinne und Sinn.
Die innere Gestalt ist den Sinnen und dem Sinn verschlossen.
Die äußere Gestalt ist der notwendige Ausdruck der inneren
Gestalt.
Form, Farbe, Bewegung, Ton wirken auf die Sinne und sind
verbunden mit einem natürlichen Sinn. Die Gestalt des Kunst-
werkes gestaltet den natürlichen Sinn zu einem geistigen in
zier Gestalt.
Die äußere Gestalt ist das Verhältnis der Kunstmittel zu-
einander. Das Verhältnis der Mittel im Kunstwerk läßt sich
begreifen. Der Sinn der äußeren Gestalt ist nicht etwa ein ge-
stalteter Sinn, sondern das System des künstlerischen Organis-
mus. Jedes Kunstwerk hat seinen eigenen Organismus, sein
eigenes System. Jedes System, auch das unlogische, ist logisch
auflösbar. Das Unbegreifliche des Kunstwerkes ist, daß sein
System einen Organismus bildet, eine innere Gestalt wirkt. Hier
ist das Gemeinsame und ewig Trennende zwischen Kunst und
Mathematik.
Das System im Kunstwerk wirkt auf den Verstand. Die
Glieder des Systems sind die einzelnen Kunstmittel. Die ein-
zelnen Mittel und ihre Verbindungen wirken auf das Gefühl
durch die Sinne und durch die Sinne auf den Verstand. Die
unmittelbare Wirkung der Gestalt ist also sinnlich. Die Sinne
jedes Menschen sind empfänglich für Form, Farbe, Ton und
Bewegung. Mit seinen Sinnen nimmt der geistgebildete Mensch
das Kunstwerk auf. Das Kunstwerk spricht zu ihm. Aber der
ungebildete Mensch spricht zu dem Kunstwerk. Er stellt Fra-
gen und verlangt eine Antwort. Er fragt das Kunstwerk, was

es bedeutet. Da es keine natürliche Bedeutung hat, kann er
es nicht „verstehen ". Der naturgebildete Mensch will alles
verstehen. Er will Ruhe haben. „Alles verstehen, heißt alles
verzeihen." Er kann es dem Kunstwerk nicht verzeihen, daß
er es nicht versteht. Der Verständnislose kann dem Kunstwerk
nicht verzeihen, daß es besteht. Das Kunstwerk aber besteht
die Verständnislosigkeit. Die Natur vergeht, der Geist besteht.
Das Kunstwerk steht in sich. Der weltmächtige Mensch
steht in sich. Das Kunstwerk steht in ihm. Er steht im Kunst-
werk. Das Kunstwerk stützt sich nur auf sich. Der Mensch,
der das Kunstwerk empfängt, stützt sich nur auf das Kunstwerk,
das ihn empfängt. Die* mystische Hochzeit verträgt kein Drit-
tes. Kein „Erinnerungsbild", kein „Verständnis", kein „kluger
Gedanke", kein „ethisches Bewußtsein" oder andere Krücken
der natürlichen Bildung nehmen das Kunstwerk auf. Nur die
natürlichen Sinne nehmen die Kunstmittel auf. Jeder gesunde
Mensch hat die natürlichen Sinne. Jedes Menschen Sinne sind
gewohnt, Formen, Farben, Töne, Bewegungen zu ergreifen.
Nichts ist leichter, als die Kunstmittel zu ergreifen. Aber der
Mensch muß sie unmittelbar ergreifen, die Formen als Formen,
die Farben als Farben, die Bewegungen als Bewegungen, die Töne
als Töne. Es gehört kein Verstand dazu, kein Wissen, keine
Schulbildung, keine sog. Kunstbildung, sondern nur die Unbefan-
genheit der Sinne. Daher ist das Kunstwerk für jedermann greif-
bar. Daher ist das Kunstwerk schwer greifbar für den Intellek-
tuellen. Daher hat das Kunstwerk mit Aesthetentum überhaupt
nichts zu schaffen. Das Kunstwerk ergreift das Volk. Das
Kunstwerk wird vom Volk ergriffen. Aber das Kunstwerk ist
nicht völkisch. Es ist nicht national. Es ist nicht international.
Es ist weltmächtig. Das Kunstwerk ist keine weltliche Macht.
Es ist eine Weltmacht.
Der Mensch, dessen Sinne das Kunstwerk aufgenommen
haben, hat die äußere Gestalt des Kunstwerkes empfangen. Die
endliche äußere Gestalt umschließt die unendliche innere Ge-
stalt. Der Mensch nimmt die äußere Gestalt in sich auf. Die
innere Gestalt nimmt den Menschen auf. Sie nimmt ihn so auf,
daß er eins ist mit ihr. Der Mensch ist weltmächtig. Die Macht
des Geistes hat ihn ergriffen. Der Rhythmus hat den Rhyth-
mus des Menschen ergriffen. Wb der Rhythmus des Kunstwer-
kes auf den Menschen wirkt und nicht nur wahrgenommen
wird, kündet das Kunstwerk sein Gesicht. Der Rhythmus des
Kunstwerkes wirkt auf den Menschen, der die Macht des Gei-
stes ersehnt oder geistesmächtig ist.
Der harmonische Mensch ist genügsam im Geist. Er sehnt
nicht nach der Macht des naturfernen Geistes noch ist er geistes-
mächtig. Der Mensch der Gegenwart ist nicht mehr harmonisch.
Die Vollendung ist nicht seine Sehnsucht. Seine Sehnsucht ist
die Macht. Macht ist Nievollendung. Der rhythmische Mensch
der Machtsehnende sprengt die Fesseln der Vergangenheit. Er
zertrümmert das irdische Reich der Vergangenheit. Er baut ein
neues Reich, das neue Grenzen hat. Die Kraft dieser Macht gibt
ihm die Kraft, die Grenzen, die eine Vergangenheit vor dem
Reich des Geistes errichtete, niederzureißen und den Weg in
das Grenzenlose, in das Reich des Geistes zu öffnen.

Der harmonische Mensch ist der Mensch der Organisation.
Sein Ziel ist die Vollkommenheit der Persönlichkeit. Nun hat
der Mensch eingesehen, daß die Vollkommenheit der Persönlich-
keit unerreichbar ist, daß die harmonische Gestalt unwesent-
lich ist. Die Persönlichkeit ist nicht Zweck, sondern nur Mittel.
Das Mittel ist begreifbar, aber der Zweck nicht.
Die Organisation bleibt das Mittel. Die Organisation ist
Mittel der Macht. Die Organisation greift mächtig die Natur.
Die Macht über das Endliche schafft das Reich der Natur.
Das Reich der Natur ist unvollkommen. Die Harmonie der
Natur ist rhythmisch. Sie fließt. Es gibt keine Harmonie,
sondern nur rhythmische Harmonie. Der harmonische Mensch
ist ein Irrtum, über sich, in sich.

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