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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 8.1917-1918

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Viertes Heft
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Knoblauch, Adolf: Gereut, [3]: Erzählung
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https://doi.org/10.11588/diglit.37114#0065

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Aufnahme ins Obdachlosen-Asyl. Auf der nächsten Polizei-
wache prüfte man seine Person und Papiere und erlaubte ihm
dann, sich im Riesen-Schlafsaal des Asyls auf die schräge Holz-
pritsch-Bahn zu legen. Diese schräge Holzpritsche war die
Schlafstätte der täglichen düsteren Gemeinde von Hunderten
der Aermsten, ihre starken, feuchten Ausdünstungen verdarben
die Luft, ihre schutzlose Blöße verhüllte der gemeinsame Schlaf.
Von der Landstraße, vom Hafen, seinen Anlegestellen, Schen-
ken und Speichern, aus Kellern, nassen Büschen der Parks
krochen sie vor Mitternacht herbei, um einige Stunden Obdach
und Wärme zu genießen. — In der ersten Frühe wurde ihre
Herde in die Stadt getrieben. In seinem wilden Hunger rannte
Gereut durch die breiten Alleen zur Altstadt hinab. Gegen den
brutalen Gesellen Hunger stritt er in furchtbarer Schwäche und
umsonst. In der kleinen Bäckerei einer altertümlich krummen
Gasse bettelte er flüsternd und erhielt nach einem scharfen
Blick der Bäckerin eine Semmel. Er brach das Brot auf einem
Marktplatz und fraß es, ängstlich vor der Polizei.
Dann ging er zum Heim der englischen Heilsarmee und wurde
nach mißtrauischem Verhör ins Arbeitshaus aufgenommen. Er war
verpflichtet, von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends zu arbeiten
und sich das bloße Essen und den bloßen Schlaf zu verdienen.
Gereut dankte der Heilsarmee seine Rettung. Er sortierte Lum-
pen, Kehricht und Kot der lebensfreudigen Stadt Köln, schälte
Kartoffeln von früh bis spät, betete mit den Armen, Entgleisten,
Verwahrlosten, Verkümmerten, die auf rauher Erdwanderung
sturmumtobt zur letzten Ruhestätte heimfanden, er sang Lieder
der Heilsarmee im Takt von Gassenhauern, er betete unhörbar
in seinem bebenden Herzen das Gedenken an alle Armen,
Leidenden, Unglücklichen auf den rauhen Straßen der ganzen
Erde, seine hohe Messe der Armut und des Elends, und er de-
mütigte sich.
Nach mühevollen Wochen der Arbeit, die ihn zufrieden und
still machte, bekam er ein Schreiben von Fräulein Laura, sein
Vater habe ihn durch die Polizei von Berlin bis Köln suchen
lassen. Sie bäte ihn, heimzukehren, denn sie sei sehr krank, und
schickte Geld. Gereut verließ gehorsam das Arbeitshaus und
wandelte an einem frühen Morgen zum ersten Male am arbeits-
wimmelnden, goldglühenden Rhein zur Kathedrale.
Aus Kölns buntem Herbstmorgen trat er in das Grab des
Domes, schritt unter den massigen Säulen, beugte sich vor den
finstren Mauern. Fern vor schimmernden Weihbildern brann-
ten Kerzen, Priester murmelten ununterbrochen in den Hallen.
Von der Straße kamen Händler, Frauen, Vorübergehende, knie-
ten, gingen einige Schritte, knieten nochmals.
Der einsame Gereut, der Wissende stand abseits, geschie-
den von den Gläubigen. Seine Wanderung hatte er getan, sie
geendigt in der Grabkammer der Riesenkirche. Gefahr, Hunger,
Not, harter Frohn waren ihre Stufen der Läuterung. Er durfte
das Gebet seines frommen Knabentumes wieder beten, er durfte
lieben mit der fleischlichen Liebe, die aus makellosen Quellen
hervorging, um zu spielen, sich zu freuen und glücklich zu sein,
in den unbeirrten ursprünglichen Eingebungen. Er empfing den
Jünglingsleib aus Gottes Hand zum rechten Leben, um ihn ehr-
fürchtig zu hüten. Von den Straßen der Welt durfte er heim-
kehren in heilende Stille.

Nach langer Nachtreise kehrte Gereut um vier Uhr früh
in die große Stadt zurück und fuhr mit dem ersten Zug nach dem
Vorort hinaus. Er suchte das Gelände der früheren „Mündigen
Gemeinde" auf, schlich durch den Forst zum Freilicht-Theater,
das die Mündigen zu ihren Dionysien gebaut hatten, um es nie
zu benutzen, denn als es fertig stand, lief der Pachtvertrag der
Gemeinde ab, und sie zerstreute sich völlig. Hinter der Bühne
befanden sich die zum Umkleiden der Schauspieler bestimmten
Bretterverschläge für beide Geschlechter. Die Bretter waren
morsch und feucht, aber der Erdboden war sauber und voll
Nadelstreu. Gereut breitete seinen Mantel aus und legte sich
umständlich schlafen. Er schlief den ganzen Tag.

Gegen Abend ging er in das verlassene Haus und mietete
beim Pächter das Stallgebäude. Er klomm allein die Hühner-
stiege zum ziegelgepflasterten Sälchen hinauf, in dem einst
Myrddhin den Befehl des Todes erwartete. Das rohe Gebälk
des flachen Stalldaches drückte niedrig auf den heißen Raum.
Von den Wänden waren große Stücke Kalk abgebröckelt, Kis-
tenbretter und Holzwolle lagen verstreut auf dem roten Ziegel-
pflaster, und an der Stelle, wo Myrddhins Sofa gestanden hatte,
hing an der Wand ein Bündel dürres Reisig. Zwei Fenster hell-
ten das Sälchen, und Gereut öffnete ihre blinden Scheiben, um
im Licht und im Atem von Myrddhins Abendröte die Verwesung
der Kammer zu tilgen. Zu Myrddhin kehrte sein Jünger heim!
Gereut machte Vertrag mit einem Verleger zur deutschen
Herausgabe von Miltons „Verlorenem Paradiese". Er durfte
in zeitloser Zwiesprache mit seinem blinden Schöpfer zum Lichte
beten:
So kehren mit dem Jahre Jahreszeiten wieder
aber zu mir kehren nicht wieder Tag,
süßes Herannahen von Abend und Morgen,
Anschauen der Frühlingsblume und Sommerrose,
und der Herden und des göttlich menschlichen Angesichtes.
Wolke des immer dauernden Dunkels umfängt mich,
geschieden von frohen Menschenwegen.
Ein Jahr fernster Einsamkeit, inneren Reifens, fruchtbarer
Arbeit wurde Gereut beschieden; Tauben, Waldvögel flogen
mitten durchs Sälchen vom offenen Fenster im Osten zum offe-
nen Fenster im Westen, sie weckten ihn in der Frühe mit gol-
denen Rufen und Rauschen der Fittiche unter dem Gebälk!
Sein Haupt schlief des Nachts im tiefen Ringe demantener Stern-
funken des Höhenblaus.
Ueber seiner Jugend standen die ehrwürdigen Meister, die
hehren Wächter, die Ewigen, die väterlich sein Leben, seine
Träume, seinen tiefen Schlaf leiteten und seinen Leib, die heile,
göttlich gebildete Schale mit ihren Händen bewahrten; Myrd-
dhin und Meister Eckhart. Die Unsterblichen seiner Rasse
kamen schirmend zum Jüngling in seiner Blöße und Ohnmacht,
und er empfand im Dunkel seines Schlafes, ihre Stärke, die ihn
schwebend über Länder und Meere hob. Er flüsterte mitten in
der Nachtstille einsam wachend Gottes höchsten Gedanken
in der Sprache seiner Vorfahren:
Der Mensche sol niht haben, noch im lazen genüegen mit
einem gedahten Gotte. Wenne der gedank vergat, so vergat
auch der got . . . Sus mac der mensche niht gelernen mit flie-
hen, daz er din dinc fliehet und sich an die einöde kehret von
uzwendikeit, sunder er muoz ein inerlich einöde lernen, wa
oder bi wim er ist. Er muoz lernen, din dinc durchbrechen unde
sinen got dar inne nennen unde denne Kreftecliche in sich Kön-
nen erbilden.
* & *
Fräulein Laura hatte geglaubt, daß Gereut ihretwegen von
der wunderlichen Wanderschaft heimgekehrt war. Aber er
hielt sich streng zurück und war zu keinem Besuch zu bewegen.
Als sie es wagte, das frühere Spiel zu treiben, in Myrddhins
Saal zur Nacht zu bleiben und sich in sein Bett zu legen, ließ
er sie ruhig gewähren, blieb die Nacht bei seiner Arbeit auf und
kochte ihr morgens Kaffee. Als sie endlich fortgegangen war,
schrieb er ihr, daß er auf fleischliche Gemeinsamkeit mit ihr
verzichte, erbäte, ihn zu entschuldigen!
Fräulein Laura entschuldigte durchaus nicht und schrieb,
tief in die Wurzel ihrer Hoffnung getroffen, dem Männchen böse
Dirnenworte. Nach diesem Fehlschlag ihres letzten Traumes
in Europa reiste sie mit einem Auswanderer-Dampfer nach den
Vereinigten Staaten und ließ sich in einer Stadt am Michigan
nieder, wo sie Arbeit fand und sich schnell mit einem kleinen
Farmer nach Virginien verheiratete.
Nach etlichen Jahren schrieb sie ihren ersten Brief und
sandte Gereut Dollarscheine. Sie empfahl sich seiner Herzens-
Erinnerung und bat ihn, die Scheine als Dank für seine gütige
Freundschaft in Europa anzunehmen. Sie wisse, daß er noch
immer arm sei, und da sie selbst ihm nicht Brot und Reis kaufen

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