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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 8.1917-1918

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Achtes Heft
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Willi Wille!
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https://doi.org/10.11588/diglit.37114#0132

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nach außen sich betätigen, zum bescheidenen Schüler werden
— und eben diese schwierige Bedingung verhindert unter Men-
schen die Magie des Willens. Denn entweder gibt es fleißigste
Lehrlinge, welche aber, in Ermangelung der inwendig göttlichen
Kultur, sich nur empirisch-technisch behelfen können; oder re-
ligiös-ekstatischen Willen, der dann voreilig auf alle Welt und
Wirklichkeit resigniert. Sehr selten finden wir in der Men-
schengeschichte diese Bedingung der Magie auch nur halbwegs
erfüllt, daß der schöpferisch innerste Wille sich alltäglich nüch-
tern zu äußern bestrebt ist; sondern meistenteils geschieht ent-
weder an der Welt, der Wirklichkeit, oder am innersten Willen
irgend ein Abbruch; aber der zarteste Abbruch macht die Magie
eigentlich unmöglich. Höchstens ästhetisch-künstlerisch bewirkt
sie das Genie.
Auf Willin jedoch traf die Bedingung überraschend zu. Rein
äußerlich mehr als derb alltäglich von dieser Welt, ein grobes
Stück Fleisch, war er im Innern ganz und gar götticher Aether,
schöpferischer Anhauch. Und als ihm, durch längeren Aufent-
halt im Irrenhause (Gummijacke, niedrig-enge Zelle, zugleich
aber nahrhaftere Kost) die tobende Raserei, das finstre Mißver-
ständnis zwischen heilig-allmächtigem Geist und gierig-triebhaf-
tem Fleisch sich zu lichten, und, immer mehr zunehmend Beson-
nenheit einzutreten begann, mußte endlich der Geist der All-
macht das Fleisch erfassen, bis das Wunder der magi-
schen Einwirkung des Geistes auf die Außendinge stich
immer deutlicher ereignete; zunächst aber, das war Patsor Pau-
ken aufgefallen, an Willin selber — „Menschheit" (um auch
Schillern endlich wieder das Wort zu geben) „trat auf die ent-
wölkte Stirn." Die Materialisation des göttlichen Geistes, seine
auch nur einigermaßen adäquate Inkarnation, ist keine leichte
Sache, sondern tarn difficile quam rarum, weil der göttliche
Geist selber das seltenste Wunder aller Wunder ist. Nur die
Schlaraffen-Phantasie hat erbärmlich faulpelzige Vorstellungen
von Allmacht. Hört ihr aber nicht, ihr sterile Schlaraffen, wie
das göttlich-inwendige Allmachtsbewußtsein in Dr. Faust auf-
stöhnt, daß es nach außen nichts bewegen könne. Ja, solange
Faust, anstatt sich selber zu vertrauen, vermittelst des mephi-
stophelischen Hokuspokus, nach außen wirken wollte, blieb er
der Untertan eines rasendzerstörerischen Willens. Er wünscht
sich die Magie des Selbstvertrauens: „Stünd* ich, Natur, vor dir,
ein Mann allein!" Das Wunder der Erlösung von Ohnmacht und
Beschränkung vollzieht sich erst, wenn die eigene „starke Gei-
steskraft die Elemente an sich heranrafft."
Pastor Pauke hatte allen Grund, über das sich immer reiner
verklärende Aussehen Willis, über die Verwandlung des Pithe-
kanthropus in das unverkennbar Seraphische zu erstaunen. Die
einzige Erklärung, welche er ausfindig machte: daß Willin der
Tod nahe, war nicht einmal falsch, aber doch anders richtig als
er dachte. Der sogenannte Tod — das ist eben, allerdings un-
heimlich verborgen noch die unerhörte eigene Schöpferkraft,
welche freilich hier, da sie sich nicht mit Wissen, Willen und
voller Selbstgefühl kultivierte, in furchtbarem Inkognito, wie
von außen, an das Selbst herantritt. Versteht ihr die physiolo-
gische Hieroglyphe der Natur, die engste Benachbarung der Or-
gane der Zeugung mit denen der Verwesung? — Willi verklärte
sich engelhaft. Herr Doktor Futsch, Pastor Pauke und ein paar
Gefängniswärter überzeugten sich davon. Sie versammelten
sich in Willis Zelle. Futsch untersuchte ihn sorgfältig und
mochte der Diagnose Paukes (auf Euphorie) nicht zustimmen.
„Ih wo," sagte er, „is nich, Pauke, der Junge fühlt stich ganz ein-
fach sauwohl; er war ja auch ein Schweinekerl". Pauke wider-
sprach, er fing wieder mit Dr. Fließ an. Und angesichts des
also bevorstehenden Todes redete er Willin mitten )ins Gewissen:
„Sechzig gute Herren, Damen, Männer und Weiber, und, fürch-
terlich! auch einige Kinder hast du umgebracht. Bist du nun
zum Bewußtsein dieser schnöden Taten erwacht und bereust du
sie? Bedenke dein baldiges Ende!"
Willi brach in das herzlichste Gelächter aus, sodaß alle
Wärter sich in der Richtung auf ihn in Bewegung setzten, aber
plötzlich wie entgeistert innehielten — sie empfingen schmerz-

hafte elektrische Schläge, welche ihnen Arme und Beine fast
lähmten. Futsch und Pauke retirierten vor Willin, der, immer
noch lachend, auf sie zuging, ohne daß die Wärter sich im Stande
fühlten, es zu hindern. Wille sagte lachend: „Ich bin vollkom-
men unschuldig, und deshalb kann ich alles, was ich will. Es
gibt gar keinen Tod. Wer stirbt, hat nie gelebt. Wer mordet,
mordet gamichts. Warum sind sie nicht haltbarer? Ich töte,
ich belebe, ich bin der liebe Gott!"
Futsch, mit dem berühmten Tierbändigerblick, sah Willin
ins Auge und versuchte, ihn zu bannen. Da kam er schön an:
Wille schickte ihm seinen Blick wie eine Pistolenkugel zurück;
Futsch sank um wie ein Klumpen Lehm. Pastor Pauke schrid
zitternd, indem er sich dem Monstrum allein gegenüber befand:
„Frevler! Fürchte das Schreckensgericht!" „Fürchte du es
selbst, Pauke!" frohlockte der strahlende Schweinehirt. Auch
Pauke sank wie entseelt dahin; die Wärter standen im Starr-
krämpfe. Willi schritt, an ihnen vorbei, durch die Tür seiner
Zelle in den geräumigen Korridor und erreichte das Freie. Als
er auf der Schwelle zur Welt, jenseits des Irrenhauses stand,
traf ihn sein eigener Gedanke wie ein Pfeil: Allmacht wird am
sichersten inkognito ausgeübt.
Nein! Wie denkt ihr euch das? Er durfte sich nicht zuviel
zumuten. Ja, unter günstigen Bedingungen, mag Allmacht sich
herrlichst an den Tag geben; unter so elenden aber, wie sie die
Menschenwelt liefert, würde sogar die Allmacht, welche ja, nach
außen hin, wie gesagt, einstweilen Schülerin ist, sich überan-
strengen, wenn sie sich nicht klüglich verstecken wollte — wie
der Tod: sie ist der sogenannte Tod.
„Der Massenmörder Willi Wille, der über vier Dutzend
Menschen tötete, bevor man seiner habhaft wurde, ist heute früh
als Leichnam, vor dem Portal des Dr. Futschschen Irrenhauses
gefunden worden. Daß er, trotzdem sich in seiner Zelle der
Direktor, Pastor Pauke und einige Wärter aufhielten, das Freie
gewinnen konnte, erklärt sich vielleicht aus dem Paroxysmus des
Tobsüchtigen, der ihm Riesenkräfte verlieh, welche jedoch, man
möchte wohl sagen glücklicher weise, zu dessen plötzlichem
Zusammenbruch und Ende führten. Genaueres läßt sich wohl
erst konstatieren, wenn sich die Beteiligten von dem Chock er-
holt haben werden, den ihnen die Flucht des irren Verbrechers
zugefügt hat; besonders Herr Pastor Pauke ist recht arg mitge-
nommen. — Die Obduktion der Leiche Willes ergab interessante
Resultate. Man fand an den Schulterblättern flügelartige Aus-
wüchse. Das Antlitz hatte sich durch den Tod sichtlich ver-
edelt; es erinnert sonderbarer Weise an die Totenmaske
Napoleons. Die Autopsie der inneren Organe zeigte deren anor-
malste Schrumpfungen. Dagegen erwies sich das Nervensystem,
besonders das Gehirn, verwunderlich genug, von einer noch nie
dagewesenen auserlesenen Beschaffenheit. Fachmännischer-
seits verlautet hypothetisch, daß diese Hypertrophie des Nerven-
systems, bei Atrophie der Muskeln und der Verdauungsorgane,
zu diesen schauerlichen Exzessen geführt habe. — Derartige
Monstra sind für ihre Handlungen nicht verantwortlich zu
machen; sie sind als blinde Naturkräfte zu betrachten und zu
behandeln. Auch Herrn Pastor Pauken, dem allverehrten wür-
digen Manne, der schon in manchem irren Verbrecher das Ge-
wissen erweckt hat, ist es in diesem entsetzlichen Falle nicht ge-
lungen, in das Innere des Kranken einzudringen; wahrscheinlich
haben derartig Vertierte gar kein eigentliches Innenleben."

Für die Zeiten
Die Kunstkritiker folgender Zeitungen: Berliner Tageblatt /
Berliner Lokalanzeiger / Vossische Zeitung / Vorwärts haben
ihren Lesern die Oktoberausstellung im Sturm Marc Chagall
verschwiegen. Ueber Kunst berichten: Berliner Börsencourier
und B Z am Mittag.


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