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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 8.1917-1918

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Zwölftes Heft
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Walden, Herwarth: Die Ängstlichen
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Mürr, Günther: Gedichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.37114#0185

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neuste Kunst genommen hat. Er sieht die Gefahren in der
Monotonie, in der Lehre der großen Geste, die durch die Ein-
seitigkeit des ganz auf ein Ziel gerichteten WoHens heraufbe-
schworen wird. Das Ich will sich über sich selbst hinausheben
— darin liegt das tragische Schicksal des Expressionismus. "
Herr Worringer hat also noch nicht einmal die geistige An-
schauung des Expressionismus erkannt, was für ihn als Theore-
tiker immerhin wichtig wäre. Man darf also behaupten, daß
er um so weniger sich in die bildliche Anschauung eingefühlt
hat. Denn seine Abstraktion ist falsch. Das Ich ist etwas Hin-
ausgehobenes. Individualitätstheorie ist Impressionismus. Der
Expressionismus sucht das Typische, das Gemeinsame, das Ge-
fühlte, das Ursprüngliche, also das Ewige. Die Herren Ich
suchen sich und finden sich interessant. Sie finden sich sogar
bedeutend. Der Expressionist sieht nicht mit seinen eigenen
individuellen Augen, der Expressionist sieht. Der Expressio-
nist fühlt nicht die unorganische Häufung von Empfindungen,
die ihm ein äußerer Eindruck zufällig übermittelt. Der Expres-
sionist fühlt. Das wäre die geistige Anschauung. Ueber die
bildliche Anschauung, das heißt über die Gestaltung des Aus-
drucks, kann ich noch weniger mit Herrn Worringer verhan-
deln. Dazu fehlen ihm die künstlerischen Voraussetzungen. Es
ist für einen Theoretiker geradezu naiv, um nicht zu sage^
kindisch, wenn er sich über die Künstler beschwert, daß sie
nicht allgemeinverständlich sind: ,,Als Beispiel dafür, wie heute
immer noch in Geheimsprache geredet wird, verwies Worrin-
ger auf das Problem des Kubismus. Niemals ist bisher deutlich
gesagt, was er eigentlich ist und will." Da hat eben Herr Wor-
ringer nicht deutlich genug aufgepaßt. Da er aber die ganze
neue Kunst angeregt haben soll, müßte er es eigentlich allein
wissen. Er scheint mir aber nur ein Zauberlehrling gewesen zu
sein. Darum beklagt er sich bitter: ,,Aber was vor dem Kriege
nur esoterische Kaffeehausdiskussion war, ist jetzt Angelegen-
heit aller. Darum muß auch an die neuen Künstler und der
Propheten die neue Forderung gestellt werden, alles Esoteri-
sche abzutun, und allgemeinverständlich zu werden." Wenn
diese neue Kunst jetzt Angelegenheit aller ist, und sie ist es,
so müßten vor allem die Herren Kunstwissenschaftler sich
nicht abstrakt einfühlen, sie müßten sich vor allem einmal Bil-
der ansehen, was den meisten Herren Kunstwissenschaftlern
erläßlich erscheint. Herr Worringer hat zum Beispiel in sei-
nem Leben noch nie ein Bild von Marc Chagall gesehen. Herr
Worringer ist zum Beispiel noch niemals in der Sammlung Wai-
den gewesen. Seine tatsächlichen Kenntnisse, und Theorie ist
Kenntnis der 1 atsachen, sind so gering, daß er nicht einmal
für seine Individualität feststellen kann, ob nicht vielleicht die
neuste Kunst viel allgemeinverständlicher ist, als er es bisher
selber glaubt. Oder Herr Worringer wendet sich an falsche
Propheten. Aber ich opfere auch alle wahren Propheten und
selbstverständlich ebenso mich selbst der Kunst, zu der man
nicht überreden kann und soll, am wenigsten dann, wenn man
nicht vor der Ueberzeugung Zeuge dieser Kunst, der Kunst ge-
wesen ist.

Herwarth Waiden


Gedichte
Günther Mürr
Marienlied
Du bist nicht fern.
Komm, schlinge mich ein
mit deinem innigreichen Umarmen,
mit den zärtlichen Tausendfäden deiner Haare
in die blausüße Flut deiner Augenseele.
Zieht mich zu dir,
zieht mich in dir, aus dir
Heimweh, wurzeltief himmelhin.

Verlangen drängt,
Tränen fließen,
Hoffen schwingt,
Müdesein dämmert,
Denken klettert,
Schauen blickt,
Sorge zittert,
Atem haucht,
Schlaf selbst weht nur zu dir,
alles wogend, zugvogelsicher dahin,
Nahe,
Nächste,
alles marieneins ichfern weitnah zu dir.
Uns eint nicht der vogelrufende Lärm der Abendwelt.
Wir wachsen aus dem Grund, der alles hält.
Uns liebeverschmolzen schmilzt Liebe, zieht Liebe in Liebe hin
Gnade schenkt Weg, Kraft, Ziel,
wir wandern demütigen Stillestehns.
Wir knien vor dem, der da war, der ist, der kommt:
ICH BIN.
Feier
Blaudurchhimmelte Tiefe.
Luft blinkt,
schäumt aus breiten, gleitenden Wogen,
spiegelglitzernd im Sonnenwind.
Eilig laufen die Wolkenschatten.
Du tust dich auf.
Nun fließt mein Blut in deinen Gliedern
küssend und küssend.
Wir treiben
losgelöst umschlungen
über die Berge im Gnadenwind.
In Dir ertrinkend
trink ich Dich auf.
Mariensee
Toll drückt Trieb Fontäne hoch,
säulend Liebe und Verlangen.
Gute, böse Kraft versprüht.
Schillernde Tropfen.
Du sammelst mich im Niederfallen,
daß wir vermischten Stroms zur Mitte wallen.
Wandrung
Wind wächst.
Breiter Strom.
Zeit und Sünde
dichtes Hemmnis erbarmungslos.
Wegmüder Wandrer stemmt dagegen.
Schulter keuchend sinkt ab.
Kniee krampfen, schlaffen.
Vor wirft ankernd Verlangen.
Nach zerrt saugend Heimweh.
Sturm wächst mauernd entgegen.
Letzer Ansprung verkohlter Kraft.
Prall ab.
Wirbelt knackend köpflings zu Boden.
Stößt der Atem kleines Aechzen.
Sturm schwillt ab.
Wind flaut ab.
Biegen, ächzend durchs Still.
Sünde hackt höhnisch verreckende Brunst.
Wimmern sickert belebend aus fetziger Wunde.
Durch Wolken blitzt Sternblick.
Flehen rieselt nach Gnade hin.
Aus Abend baisamt zärtliches Herz.
Verzeihen weht lächelnd die Ferne vor.
Bebend gehn wir
leuchteklar vereint.

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