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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 17.1926-1927

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1. Heft
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Walden, Herwarth: Expressionismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.47216#0010

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Expressionismus / Herwarth Walden

Es ist nicht einfach, vor Lesern über das
zu sprechen, was gesehen werden muß.
Es ist einfach zu sehen. Deshalb ist das
Sehen der Kunst der Gegenwart für viele
mit so großen Schwierigkeiten verbunden.
Weshalb sehen die Leser die alte Kunst fast
ohne hinzusehen? Weshalb macht diese
Kunst der Gegenwart soviel Aufsehen?
Weil man gezwungen wird, aufzusehen.
Wenn auch Sehen keine Kunst ist. Kunst
hat das Sehen als Vorbedingung. Der Blinde
hat nichts von der Kunst, Man hat es na-
mentlich in Deutschland verlernt, zu sehen.
Man hört. Man horcht. Man gehorcht.
Man spricht von dem Hörer als von einem
Menschen, der hört. Man spricht aber vom
Seher als von einem Menschen, der nicht
etwas Gewöhnliches, der etwas Außer-
gewöhnliches sieht. Nämlich etwas sieht,
das er nicht sieht. Die Tätigkeit des
Sehens ist mit einer Vorstellung verbunden.
Eine Vorstellung ist etwas, das man vor sich
stellt, wodurch man also die Fähigkeit des
Sehens erschwert. Man kann nicht mehr
über das hinwegsehen, was man sich vor
die Augen stellt. Nun wird die menschliche
Fähigkeit gerühmt, sich etwas vorstellen zu
können, was man nicht sieht, also über das
Sehen hinwegsehen zu können. Was hat es
für einen Wert, auf etwas zu sehen, was
man gar nicht sehen will oder sehen muß.
Das Bild muß gesehen werden. Oft glaubt
man zu sehen, wo man nur denkt. Denken
ist das Gedächtnis sinnlicher Erfahrungen,
Je mehr sinnliche Erfahrungen wir gesam-
melt haben, oder je mehr sinnliche Erfah-

rungen in unserem Gehirn durch Lernen,
das heißt durch Erfahrungen Anderer, auf-
gespeichert sind, umso weniger wenden wir
unsere Sinne an. Durch die dauernde
Uebung geschieht die Umwandlung des
Sehens in Denken so schnell und so auto-
matisch, daß wir oft zu sehen glauben, wo
wir nur denken. Man wendet gegen die
Kunst der Gegenwart ein, daß man sich
nichts dabei denken kann. Es muß heißen,
daß man etwas sieht, was man sinnlich mit
dem Auge nicht erfahren hat. Daß man
also eigentlich dadurch erst recht zum Den-
ken, also zur Verunsinnlichung des sinn-
lichen Eindrucks kommen müßte. Man hält
das Unsinnliche für besonders vornehm und
die Sinne für etwas, das durch Selbstbezwin-
gung oder durch Zwang der Erziehung sogar
mit Hilfe des Staates oder des Gesetzes be-
seitigt werden muß. Nur sind die Sinne
mächtiger als der Sinn, Denn ohne die
Sinne ist den Menschen nicht die Möglich-
keit des Sinnens gegeben. Es gibt keine
größere Freude als das Sehen. Man reist,
um etwas zu sehen. Man liebt im ersten
Augenblick durch den Blick der Augen, weil
man sieht. Die Freude der Mutter ist der
Blick auf das Kind. Man ißt und trinkt
umso lieber, wenn etwas appetitlich aus-
s i e ht . Man hat im Traum sogar Gesichte.
Nur in der Kunst, in dem gestalteten Sehen,
muß man sich etwas denken. Was sieht
man? Man sieht Farben und Formen. Hat
jemals ein Mensch die Seele eines anderen
geliebt oder gehaßt, bevor er sie gesehen
hat? Das Bild aber soll vor allem Seele

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