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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 17.1926-1927

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9. Heft
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Hausmann, Raoul: Tanz
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https://doi.org/10.11588/diglit.47216#0181

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Tanz
Raoul Hausmann
Der Mensch existiert zur Sekunde und
am Ort. Die Multiplikation der Sekunde
und des Ortes ist: Zeit-Raum. Die Kunst
beschäftigt sich bisher damit, die Sub-
traktion der Sekunde vom Ort in Gips
abzugiessen. Wir besitzen die Ausdrucks-
form des Gipsabgusses. Des Gipsabgusses
in der architektonischen, plastischen,
literarischen, musikalischen und tänze-
rischen Darstellung. In allen Gipsab-
güssen aller dieser Gebiete tritt als Aus-
druck der Angst vor Rechenfehlern, sei
es der Division oder der Addition (Com-
position) der psychologische Gehalt auf.
Die grosse Kulturepoche des Gipsabgusses
der weissen Rasse zeigt nirgends die
funktionellen Elemente der Existenz und
ihrer Formen in der Sekunde und um
den Ort. Stets wurde eine Notdurft-
konstruktion wie die Idee, die Seele oder
die Erotik an die Stelle der aufbauenden
Elemente der Kunst gesetzt. Kunst ist
die formale Erkenntnis des Ortes in einer
Auswahl der Sekunde. Der Ort kann
Werden, Sein, Vergehen. Anderes kann
der Ort nicht. Anderes zeigen oder
auswählen oder erkennen kann die Kunst
nicht. Die Form ihrer Auswahl ist der
funktionelle Aufbau. Nicht der ideelle,
noch der seelische, noch der erotische
Umstand. Der funktionelle Aufbau ist
die Auswahl einer Bewegungsart. Ideelle
Bewegungen erregen Unlust, seelische
Bewegungen erzeugen Übelkeit und
erotische Bewegungen kennt die weisse
Rasse garnicht oder nur in der Form
des Gipsabgusses als Tanz. Der nicht in
Gips abgegossene Tanz ist keine Erotik.

Tänzer der Gipsgusskultur sind Laban,
Mary Wigman und Valeska Gert. Diese
Tänzer geben ihre in Gips gegossenen
Vorstellungen von der Idee, von der
Seele und von der Erotik schlecht von
sich. Sie glauben damit klassisch, also
griechisch zu sein. Ihre in Gips gegossenen
Gehirne übersehen, dass die Griechen
nicht die Erfinder des Gipses waren.
Die Griechen waren die Erfinder der
Gymnastik, deren Zweck die Körper-
funktion war. Erst die Verbindung von
zeitraumfeindlichen, sowohl ideellen, als
seelischen Un-Werten mit der Erotik in
den dazu geliehenen Formen der Griechen
erzeugte die Kultur des Gipsabgusses der
weissen Rasse. Die gipsabgegossene weisse
Rasse wertete den Kopf hoch, den Bauch
tief, den Fuss garnicht. Für die schwarze,
nicht in Gips abgegossene Rasse ist der
Fuss oder Bauch nicht höher oder tiefer
als der Kopf. Die schwarze Rasse hat
Bewegung. Die schwarze Rasse hat Tänze.
Trotz der Erotik, die für sie nur den
Wert der Bewegung darstellt. Für die
gipsabgegossene weisse Rasse ist Erotik
ein Unwert. Die gebräuchliche Ver-
wechslung von Division und Addition
der Sekunde und des Ortes mit Ideen,
Seele oder Erotik ergab den Reigen, die
Sarabande, den Walzer und den Schrei
nach dem Kinde. Dieser Schrei der
Unfähigkeit ist nicht Tanz. Tanz ist die
Bewegungsform menschlicher Körper-
funktionen um den Ort in vielen oder
wenigen Sekunden. Massgebend für die
Bewegungsform ist das Gehen, Springen,
Bücken, Wenden. Das Gehen geschieht
mit den Beinen und war vor der gips-
abgegossenen Kulturepoche den Griechen
bekannt. Es ist noch heute der ganzen
schwarzen Rasse bekannt. Der Gipsab-

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