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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 17.1926-1927

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10. Heft
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Walden, Herwarth: Die neue Sachlichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.47216#0187

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Herwarth Walden
Die neue Sachlichkeit
Seit einigen Monaten atmet die Kunstwelt auf.
Die Kunslwelt ist die Gemeinde der Menschen,
die ihre Unsinnlichkeit auf Papier oder Lein-
wand verunsinnlicht haben will. Zu dieser
Gemeinde gehören äusser der Oberschicht
der feinfeingebildeten bürgerlichen Gesellschaft
die Kunstkritiker, die Kunsthistoriker, die
Literaten und etwa fünfundneunzigtausend Maler.
Also eine stattliche Gemeinde. Nun haben
seit etwa zwei Jahrzehnten einige Menschen,
die Künstler sind, weil sie sehen und
hören können, eine Bewegung verursacht. Sie
haben die Kunst von der Sachlichkeit befreit.
Die Gemeinde wünscht Sachlichkeit der Kunst.
Die Gemeinde denkt und kann nur sachlich
denken. Nämlich Sachen. Die Gegenstände
der Botanik und der Zoologie einschliesslich
der Klasse der Säugetiere, die Elemente nach
griechischer Auffassung, die Götter aller
Nationen und aller Rassen, natürlich mit Aus-
nahme der Götter der Neger und Südsee-
insulaner: das sind alles Sachen, die man
denken kann, wobei man sich etwas denken
kann. Also Sachen für die Kunst. Wir, die
nicht denken, können garnicht denken, was
die Sachlichkeit der Kunst für Probleme zwar
nicht zu lösen, aber zu bedenken hat. Rem-
brandt, der Genius der alten Sachlichkeit der
Gemeinde, Rembrandt, der Erzieher, ist so
bedacht worden, dass man ihn nächstens vor
seiner Gemeinde in Schutz nehmen muss. Er
hat nach ihrer Ansicht etwa sechstausend
Bilder gemalt und jeden Monat wird mindestens
eins hinzugefunden. Die Gemeinde drückt sich
so aus: „Das Kunsthistorische Museum in Wien
besitzt mehrere Selbstbilder von Rembrandt,
darunter ein ziemlich berühmtes Kniestück,
worauf der Maler die rechte Hand im Gürtel
hält.“ Ein Kniestück ist eigentlich unsachlich,
weil der Mensch und auch der Maler bekannt-
lich Beine hat und man sich Menschen ohne

Beine schon der Aesthetik zuliebe nur ungern
denkt. Einem Meister wie Rembrandt werden
aber kleine Unsachlichkeiten verziehen, da er
immerhin die rechte Hand im Gürtel hält.
Nun hat man durch chemische Reinigung die
Signatur sichtbar gemacht.
„Das Interessanteste an ihr ist die Jahreszahl.
Sie lautet nämlich 1652, während man bisher
das Entstehungsjahr des Bildes etwas später,
nämlich 1657, annahm. Man war dazu wohl
auch durch den Ausdruck des Kopfes ge-
kommen, der bereits vom Leben ziemlich mit-
genommen aussieht. Nun also stellt sich her-
aus, dass Rembrandt mindestens fünf Jahre
früher als man dachte, nämlich schon in
seinem 47. Jahre so alt ausgesehen hat, wie
man ihm bisher erst nach dem 52. glauben
wollte.“ So denkt, so viel, so tief denkt ein
Kunsthistoriker von der Kunstwelt über ein
Kniestück von Rembrandt. Man denke. Der
Kopf ist vom Leben bereits ziemlich mitge-
nommen. Das sieht man. Und zwar so mit-
genommen, dass der Kunstsachverständige, der
Kunstkenner und der Kunstfreund dem Kopf
des Kniestückes zweiundfünfzig Jahre gibt.
Vielleicht ist es für die Kunstgemeinde wichtig
zu wissen, dass man neuerdings die Jahre
auch an den Knien feststellt. Die Kunstmaler
der neuen Sachlichkeit könnten sich daher
in Zukunft bei Kniestücken den Kopf ganz
schenken. Auch das Knie wird vom Leben
ziemlich mitgenommen. Dieses Glied, selbst
nackt nachgekunstmalt, dürfte noch nicht unter
Schund und Schmutz fallen. Nun also stellt
sich heraus, dass die Sachlichkeit der Kunst
täuschen kann. Rembrandt hat mit siebenund-
vierzig Jahren so alt ausgesehen, dass selbst
Kunsthistoriker ihn für Zweiundfünfzig gehalten
haben. Nun fragt sich, ob die Kunsthistoriker
nicht richtig denken oder ob Rembrandt
nicht richtig hat malen können. Vielleicht
wollte der Meister aber auf dem Kniestück
älter wirken. Da hätte er allerdings den Denk-
fehler begangen, mit Jahreszahl zu signieren.
Jedenfalls, ein Kunsthistoriker kann sich nicht
um fünf Jahre irren. Hier muss ein Fehler

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