Wilhelm Ostwald
F arbenschönheit
I.
Allgemeines über die Harmonie der Farben
Zur Entdeckung der Gesetze, nach welchen
schöne Farbenverbindungen entstehen,
hat sich im Jahre 1918 folgendermassen
zugetragen.
Ich hatte mir die Aufgabe gestellt, einen
methodischen Überblick über die ganze
Welt der Farben zu gewinnen und darnach
einen Farbenatlas, eine wohlgeordnete
Zusammenstellung repräsentativer Farben
aus dieser dreifach unendlichen Mannig-
faltigkeit anzufertigen. Nach mehreren
Jahren angestrengtester wissenschaftlicher
Arbeit, die von den ersten Grundlagen
aus durchgeführt werden musste, konnte
ich an die. praktische Herstellung gehen
und der Öffentlichkeit einen solchen
Atlas darbieten. Die erste Auflage wurde
trotz der schweren Kriegszeit bald ver-
griffen. Gelegentlich der verschiedenen
Versuche, die Mannigfaltigkeit der im
„Farbkörper“, einem räumlichen Doppel-
kegel, geordneten Farben auf Tafeln
anschaulich zu machen, stellte ich auch
„Hauptschnitte“ durch den Farbkörper
her. Diese bestehen aus zwei Dreiecken,
von denen jedes sämtliche Abkömmlinge
eines bestimmten Farbtons, wie Schwefel-
gelb, Zinnoberrot, Ultramarinblau usw.
in streng gesetzmässiger Ordnung enthält;
die beiden Farbtöne jedes Dreieckspaares
sind komplementär. Als die zunächst zu
rein technischen Zwecken ausgeführte
Arbeit fertig war, erstaunte ich über die
Schönheit, die mir aus diesen Dreiecken
entgegenleuchtete. Und nicht nur ich,
sondern ohne Ausnahme jeder, der solche
Hauptschnitte sah, empfand sie als eine
grosse und neue Offenbarung farbiger
Schönheit.
Da dieses Experiment regelmässig so starke
und eindeutige Ergebnisse hervorbrachte,
war ich hier offenbar an eine natur-
gesetzliche Quelle schöner Farbempfin-
dungen, mit anderen Worten, an eine
Quelle farbiger Harmonien geraten. Die
gewohnte forschende Tätigkeit wurde
rege und es entstand die Aufgabe, diese
Quelle zufassen. Hierzu dienenBegriff e,
d. h. zusammenfassende und eingrenzende
Gedanken. Was war hier mit den Farben
geschehen?
Die Antwort ist: sie waren durch gesetz-
mässige Abstufung ihrer Elemente
geordnet. Von den vier allgemeinsten
Arten der Ordnung, die es bei den Farben
des Farbkörpers gibt, kommen nicht
weniger als drei in den Hauptschnitten
zur Anschauung. Es entstand also der
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F arbenschönheit
I.
Allgemeines über die Harmonie der Farben
Zur Entdeckung der Gesetze, nach welchen
schöne Farbenverbindungen entstehen,
hat sich im Jahre 1918 folgendermassen
zugetragen.
Ich hatte mir die Aufgabe gestellt, einen
methodischen Überblick über die ganze
Welt der Farben zu gewinnen und darnach
einen Farbenatlas, eine wohlgeordnete
Zusammenstellung repräsentativer Farben
aus dieser dreifach unendlichen Mannig-
faltigkeit anzufertigen. Nach mehreren
Jahren angestrengtester wissenschaftlicher
Arbeit, die von den ersten Grundlagen
aus durchgeführt werden musste, konnte
ich an die. praktische Herstellung gehen
und der Öffentlichkeit einen solchen
Atlas darbieten. Die erste Auflage wurde
trotz der schweren Kriegszeit bald ver-
griffen. Gelegentlich der verschiedenen
Versuche, die Mannigfaltigkeit der im
„Farbkörper“, einem räumlichen Doppel-
kegel, geordneten Farben auf Tafeln
anschaulich zu machen, stellte ich auch
„Hauptschnitte“ durch den Farbkörper
her. Diese bestehen aus zwei Dreiecken,
von denen jedes sämtliche Abkömmlinge
eines bestimmten Farbtons, wie Schwefel-
gelb, Zinnoberrot, Ultramarinblau usw.
in streng gesetzmässiger Ordnung enthält;
die beiden Farbtöne jedes Dreieckspaares
sind komplementär. Als die zunächst zu
rein technischen Zwecken ausgeführte
Arbeit fertig war, erstaunte ich über die
Schönheit, die mir aus diesen Dreiecken
entgegenleuchtete. Und nicht nur ich,
sondern ohne Ausnahme jeder, der solche
Hauptschnitte sah, empfand sie als eine
grosse und neue Offenbarung farbiger
Schönheit.
Da dieses Experiment regelmässig so starke
und eindeutige Ergebnisse hervorbrachte,
war ich hier offenbar an eine natur-
gesetzliche Quelle schöner Farbempfin-
dungen, mit anderen Worten, an eine
Quelle farbiger Harmonien geraten. Die
gewohnte forschende Tätigkeit wurde
rege und es entstand die Aufgabe, diese
Quelle zufassen. Hierzu dienenBegriff e,
d. h. zusammenfassende und eingrenzende
Gedanken. Was war hier mit den Farben
geschehen?
Die Antwort ist: sie waren durch gesetz-
mässige Abstufung ihrer Elemente
geordnet. Von den vier allgemeinsten
Arten der Ordnung, die es bei den Farben
des Farbkörpers gibt, kommen nicht
weniger als drei in den Hauptschnitten
zur Anschauung. Es entstand also der
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