durch jemanden anders dargestellt zu werden.
Der Dichter braucht das Auditorium, um
das Werk sich selbst vorzulesen, es neu zu
erleben. Die wartenden, gespannten Augen
des Publikums sollen ihm helfen, die Ab-
sicht und die Wirkung des Geschaffenen zu
trennen, gleichsam auseinanderzuschneiden
und auf zwei Wagschalen zu legen.
Und dies Gefühl der innern Abhängigkeit
ist wohl auch der tiefste Grund der Gering-
schätzung, mit der die Künstler vom Beifall
des Publikums reden zu müssen glauben,
auch wenn sie der Ehrgeiz und die Eitelkeit
ganz anders empfinden lässt. Sie fühlen,
wohl ohne es zu wissen, dass das Publikum
mit eines ihrer Kunstmittel ist, ein sehr
wertvolles, ein unentbehrliches Werkzeug.
Aber nicht sein Beifall oder sein Wider-
spruch, sondern das, was der Dichter an
seinem Werk durch dessen Berührung mit
der Wirklichkeit, der Sinnenwelt sich ver-
ändern fühlt, ist das bereichernde, stärkende,
wahrhaft fördernde Ergebnis einer Vor-
führung.
Wer hatte nie um seinen Schreibtisch
die Vision des lauschenden Kreises, auf
dessen Gesichtern er seine Begeisterung
weiterschaffen sieht, seine Erzählung lebendig
werden und so ihre Wahrheit sich offen-
baren fühlt.
Diese Sehnsucht (die in der Rahmenerzählung
ihren technischen Ausdruck, ihre Zuflucht
gefunden hat) der homerische Rhapsoden-
trieb, der urgestaltende, der in den ara-
bischen Märchenerzählern an den Strassen-
ecken, in unseren Conferenciers und Ca-
barettiers eine seltsame Proletarisierung
erfuhr, sollte und kann wohl auch niemals
im Dichter aussterben, sowie die Hörens-
freudigkeit — hoffen wir es — auch nicht
im Publikum.
Oskar Baum
Schuld
Die Tatsachen dieser Studie aus dem Grenz-
gebiet des Menschlichen entstammen dem
Bericht einer Gerichtsverhandlung, die am
27. März 1919 vor den Geschworenen in
Leeds gegen den 17jährigen Morris Swift
stattfand.
*
Der Verteidiger setzte sich. Begeisterung
rauschte durch den Saal. Der Gerichts-
präsident wandte schon den Kopf, da die
Galerie nicht zu Ruhe kommen wollte.
Der Staatsanwalt putzte seine Gläser und
räusperte sich.
Da erhob sich — langsam, zitternd im
Krampf des Entschlusses — der plumpe
hässliche Bursch von der Anklagebank,
scharfrandige rote Flecken auf den Knochen
unter den grossen Augen. Ein fleischiges
Gesicht über kurzem Hals, trotz breiter
vorstehender Kinnladen nicht brutal.
„Ich werde es erzählen/4 kam es sehr leise
von den weissen Lippen, „es ist alles nicht
wahr, was ich sagte.“
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Der Dichter braucht das Auditorium, um
das Werk sich selbst vorzulesen, es neu zu
erleben. Die wartenden, gespannten Augen
des Publikums sollen ihm helfen, die Ab-
sicht und die Wirkung des Geschaffenen zu
trennen, gleichsam auseinanderzuschneiden
und auf zwei Wagschalen zu legen.
Und dies Gefühl der innern Abhängigkeit
ist wohl auch der tiefste Grund der Gering-
schätzung, mit der die Künstler vom Beifall
des Publikums reden zu müssen glauben,
auch wenn sie der Ehrgeiz und die Eitelkeit
ganz anders empfinden lässt. Sie fühlen,
wohl ohne es zu wissen, dass das Publikum
mit eines ihrer Kunstmittel ist, ein sehr
wertvolles, ein unentbehrliches Werkzeug.
Aber nicht sein Beifall oder sein Wider-
spruch, sondern das, was der Dichter an
seinem Werk durch dessen Berührung mit
der Wirklichkeit, der Sinnenwelt sich ver-
ändern fühlt, ist das bereichernde, stärkende,
wahrhaft fördernde Ergebnis einer Vor-
führung.
Wer hatte nie um seinen Schreibtisch
die Vision des lauschenden Kreises, auf
dessen Gesichtern er seine Begeisterung
weiterschaffen sieht, seine Erzählung lebendig
werden und so ihre Wahrheit sich offen-
baren fühlt.
Diese Sehnsucht (die in der Rahmenerzählung
ihren technischen Ausdruck, ihre Zuflucht
gefunden hat) der homerische Rhapsoden-
trieb, der urgestaltende, der in den ara-
bischen Märchenerzählern an den Strassen-
ecken, in unseren Conferenciers und Ca-
barettiers eine seltsame Proletarisierung
erfuhr, sollte und kann wohl auch niemals
im Dichter aussterben, sowie die Hörens-
freudigkeit — hoffen wir es — auch nicht
im Publikum.
Oskar Baum
Schuld
Die Tatsachen dieser Studie aus dem Grenz-
gebiet des Menschlichen entstammen dem
Bericht einer Gerichtsverhandlung, die am
27. März 1919 vor den Geschworenen in
Leeds gegen den 17jährigen Morris Swift
stattfand.
*
Der Verteidiger setzte sich. Begeisterung
rauschte durch den Saal. Der Gerichts-
präsident wandte schon den Kopf, da die
Galerie nicht zu Ruhe kommen wollte.
Der Staatsanwalt putzte seine Gläser und
räusperte sich.
Da erhob sich — langsam, zitternd im
Krampf des Entschlusses — der plumpe
hässliche Bursch von der Anklagebank,
scharfrandige rote Flecken auf den Knochen
unter den grossen Augen. Ein fleischiges
Gesicht über kurzem Hals, trotz breiter
vorstehender Kinnladen nicht brutal.
„Ich werde es erzählen/4 kam es sehr leise
von den weissen Lippen, „es ist alles nicht
wahr, was ich sagte.“
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