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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 17.1926-1927

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11. Heft (Sonderheft Architektur)
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Loos, Adolf: Die moderne Siedlung
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https://doi.org/10.11588/diglit.47216#0207

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Die moderne Siedlung
Vortrag von Architekt Adolf Loos-Paris
Meine verehrten Anwesenden!
Ich werde über Siedlung sprechen, ich weife
nicht, ob sich das ganz mit dem deckt, was
Sie unter Siedlung verstehen. Was ich zu
sehen bekommen habe, waren aufeerordent-
lich schöne Bürgerhäuser; was ich
aber heute zu sagen habe, gilt der
Wohnung des JIrheiiers, der an die
Fabrik gebunden ist.
In den 60 er Jahren gab es einen menschen-
freundlichen Arzt in Leipzig: David Schreber-
Er fand, dafe es den Kindern der arbeitenden
Klassen sehr schlecht ging, und er meinte,
die Eltern müfeten sich zusammentun, viel-
leicht 10 bis 20 Familien und müfeten einen
kleinen Rasenplatz aufeerhalb der Stadt
mieten. Es sollte ein Kinderspielplatz sein,
und die Eltern müfeten um den Platz herum
Hütten bauen, wo sie am Abend nach ge-
taner Arbeit zusammensitzen könnten, ohne
in den entsetzlichen Quartieren des Elends
ihre Abende zubringen zu müssen, ohne
dafe der Mann von der Familie weggetrieben
wird und seine Abende im Wirtshaus ver-
bringt. Das wurde gelan. Nun, was geschah ?
Der Vater nahm den Spaten in die Hand,
stach in diesen Rasenplatz hinein, zerstörte
die Spielgelegenheit seiner Kinder und hat
irgend etwas angebaut, Gemüse, oder einen
Baum gepflanzt, aus einer, wenn Sie wollen,
rein teuflischen Freude an der Zerstörung.
Er war so gemein, seinen Kindern den
Spielplatz wegzunehmen. Da mufe man sich
fragen, von welchen merkwürdigen Dämonen
dieser Mann getrieben wurde.

Jede menschliche Arbeit besteht aus zwei
Teilen. Nicht jede - ich habe falsch an ge-
fangen — aber die meiste menschliche Arbeit
besteht aus zwei Teilen: Aus der Zerstörung
und aus dem Aufbau. Und je gröber der
Anteil der Zerstörung ist, wenn gar die
menschliche Arbeit nur aus der Zerstörung
besteht, dann ist es wirkliche menschliche,
natürliche, edle Arbeit. Der Begrift des
Gentlemans ist nicht anders zu erklären.
Ein Gentleman ist derjenige Mensch, der
nur mit Hilfe der Zerstörung Arbeit leistet.
Der Gentleman rekrutiert sich aus dem
Bauernstand. Der Bauer leistet nur zer-
störende Arbeit. Wenn die Arbeit noch so
niedrig ist, wenn die Arbeit die gemeinste,
die ordinärste Arbeit ist: eine Gloriole strahlt
um den Menschen, der diese gemeine,
ordinäre Arbeit leistet. Der Mann im Berg-
werk, der von der Sonne abgeschlossen ist
und die niedrigste Arbeit verrichtet, er nimmt
den Spaten und gewinnt von der Mutter
Natur Stück auf Stück, ob es nun Erz, Salz
oder Kohle ist. Besonders in der deutschen
Dichtkunst ist der Bergmann unter allen
übrigen Ständen geadelt. Die Franzosen
haben diesen poetischen Nimbus nicht in
ihrer Dichtkunst. Als aber Jean Jaures sein
Ehrengrab im Pantheon in Paris bekam
— zufälligerweise bin ich dabei gewesen —,
da holten die Leute — Jaures stammte aus
einem Bergarbeiterdistrikt - Bergarbeiter
aus seiner Heimat. Hunderte von ihnen
trugen den Riesenkatafalk von der Depu-
tiertenkammer über den ganzen Boulevard
St. Germain hinüber zum Pantheon. Es war
ein Katafalk von vielleicht 10 Meter Höhe,
in einer Gröfee wie dieser Saal hier. Die
Bergarbeiter trugen den Katafalk, kein Pferd
war zu sehen. Die Leute gerieten in Raserei
ob dieser merkwürdigen Prozession. Es
war wohl einer der gröfeten und schönsten

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