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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 17.1926-1927

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3. Heft (Theater - Sonderheft)
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Walden, Herwarth: Theater
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https://doi.org/10.11588/diglit.47216#0048

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Theater
Das Publikum und die Presse kennt eigent-
lich nur eine Kunst: das Theater. Kein
Wunder, weil es keine Kunst ist. Wenig-
stens nicht das Theater der Gegenwart. Die
Herren und Damen, die sich und andere mit
dieser Kunst beschäftigen, heißen Schau-
spieler und Schauspielerinnen, nennen sich
jetzt lieber Mitglieder irgend eines Theaters
und sind gewerkschaftlich organisiert, ohne
deshalb dem König nicht das zu geben, was
nicht des Königs ist. Sie sind alle fein ge-
bildet, verkehren in der feinen Gesellschaft
und geben den feinen Ton in allen Lebens-
lagen an. Diese Künstlerschaft kennt zwei
Arten ihrer Kunst: sie kann sich verstellen
oder sich natürlich geben. Die erste Art
nennt man klassisch oder expressionistisch,
die zweite Art naturalistisch oder realistisch.
Diese Künstlerschaft kann aber nur ihre
Stimme verstellen oder entstellen, die Be-
wegung bleibt dem Zufall der Natur oder
der Natur des Zufalls überlassen. Manchen
Künstlern kommt die Natur durch ein Ver-
sagen zu Hilfe. Eine Fistelstimme, ein Li-
speln, ein Heuschnupfen wirken stets eigen-
artig. Die Eigenart ersetzt die Künstler-
schaft überhaupt. Eigenart ist Zufall. Eine
Blonde muß unter hundert Schwarzen auf-
fallen, es bleibt ihr gar nichts übrig. Das
Näseln eines Mannes muß auffallen, wenn
die Andern es nicht tun. Diese merkwürdige
Künstlerschaft spielt nicht etwa, sie besteht
aus Mitgliedern, sie studiert Rollen und
sie denkt. Sie versetzt sich in den Geist der
Rolle und verstellt sich, um den Geist er-
scheinen zu lassen. Zur Versinnlichung die-
ses Geistes wendet man Kostüm und Maske
an, Napoleon ist schon durch den Hut ge-

geben und Maria Stuart durch den best-
bekannten Kragen. Die Seele selbst wird
durch die Stimme verstellt. Ein weiner-
licher Ton ist Trauer oder Glaube. Ein
Brüllen ist Kraft, ein Säuseln ist Liebe, Tod
wird tief und Leben hoch gesprochen. Das
nennt man Rollenstudium. Für die Gesamt-
heit der Nichtspieler wird ein Spielleiter
bestellt, der für alle zusammen denkt. Er
sorgt für die Auftritte und Antritte, für
Raucher und Nichtraucher, für Stellungen,
Sitzungen und Lagen. Er läut Fiintergründe
malen, verteilt künstliche Naturgegenstände
über den Raum und elektrisches Licht über
die Guten und Bösen, lädt auch durch Pau-
sen Stimmung und Musik machen. Außer-
dem verhilft er dem Dichter zu seinem
Recht. Wenn er modern gesonnen ist, läut
er ferner Gymnastik durch Besteigen von
kreppen und Leitern und andern Unfug
treiben. Dies alles zusammengenommen ist
die Kunst des Theaters.
Der Kunstkritiker wertet noch heute ein
Bild danach, ob die Bäume saftig sind oder
ob die Jungfrau blüht. So einen feinen Blick
hat er, der Kunstkritiker. Der Theater-
kritiker wertet noch heute danach, ob der
Schauspieler wirklich mit seinem Herzen
leidet oder ob die Schauspielerin die Liebe
durch, persönliche Erfahrung glaubhaft für
ihn darstellt. Dies alles zusammengenom-
men ist die Kunst der Kritik.
Aber keine Kritik der Kunst.
Hingegen gibt es sogar Theatergeschichte.
Es gibt sogar eine Theaterwissenschaft mit
richtigen Professoren. Made in Germany.
Aber es gibt keine Kunst des Theaters.
Wodurch hat es die glückliche Natur ver-

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