betrifft, mag es auch hundertmal fertig sein.
Und nicht wenn er es das erste Mal diri-
giert, gestaltet er es von neuem, nein! jedes-
mal, falls er ein Echter ist und in leiden-
schaftlichem Verhältnis zu seinem Werk
steht. Man veranstalte eine Rundfrage,
welchem Komponisten es möglich wäre,
sein Werk mehrmals in genau dem gleichen
Rhythmus und in der gleichen Dynamik
wiederzugeben; äusser es wäre für ihn
abgestorben und dann ist es, wie man wohl
behaupten kann, nicht mehr sein Werk.
Nie wird bei einer Probe, nie im stillen
Zimmer beim Schreibtisch ein Werk so
erscheinen können wie im Augenblick, da
es erst gleichsam Wirklichkeit wird. Und
ich möchte darum sagen: Das Publikum
gestaltet es neu, gestaltet es mit.
Ein Beweis, ein Zeugnis für die noch un-
erforschte, ganz eigenartige Natur des
Stimmungsfluidums, das von den Sessel-
reihen zum Podium und wieder zurück-
schwingt, dem Austausch des Gebergenusses
und der Empfangsfreudigkeit erscheint mir
der rätselhafte Umstand, dass wohl jeder
Vorleser, Schauspieler, Sänger genau fühlt,
wann er im Kontakt mit seinem Publikum
ist, wann er sich von ihm entfernt oder sich
ihm nähert. Viele berichteten mir schon
über solche Erfahrungen. Man könnte ja
wohl glauben, der Künstler sieht die
Spannung oder Interesselosigkeit in den
Gesichtern vor sich; aber das kann es
allein nicht sein. Denn woher hätte ich
dann die gleiche Empfindung? Und ich
fühle genau den Ausdruck der hundert
Augen, die auf mich gerichtet sind, wie mir
denn überhaupt — und auch andere Blinde
bestätigen es mir durch ähnliche Beobach-
tungen — auch mit einem Einzelnen
immer scheint, als redete ich nur zu seinen
Augen.
Ich wurde oft schon in der Unterhaltung
mit besten Freunden irritiert, wenn sie mich
nicht ansahen und wenn man, wie man es
begreiflicherweise gewöhnlich zu machen
pflegt, sobald man mich nicht versteht oder
mit dem was ich sage nicht einverstanden
ist, die fragenden Blicke statt an mich, an
meine Begleitperson richtet.
Als ich zum ersten Mal die Inspiration der
unmittelbaren Wirkung zu fühlen bekam,
doppelt trunken nach dem Rausch der un-
gekannten Begeisterung, vom Podium in das
kleine Zimmer daneben floh, hielt ich den
Applaus meiner Freunde und der Freunde
meiner Freunde, die damals den kleinen
Saal füllten, für die Zustimmung, für den
Dank, die Antwort der Welt, und ich nahm
diese Musik mit der Rührung und Scham
eines Menschen entgegen, der nicht ich war,
sondern einer, der ich in einem eitlen
Kindertraum hatte sein wollen. Da brachte
man mir Leute aus der Zuhörerschaft, die
es mit mir zu reden verlangte, die etwas
für mich auf dem Herzen hatten. Es war
mir, als seien es die, die mir die neue Ge-
stalt, die Auferstehung meiner geschriebenen
Gedanken geschenkt hatten; und ich empfing
sie voll glücklicher Innigkeit und freute
mich, ihr Anliegen zu hören. Und sie fragten:
„Bitte, könnte ich Ihre Schrift mal von der
Nähe sehen?“ „Nein, wie können Sie bei
diesem Punktgewirr Buchstaben unter-
scheiden?“ „Ich dachte, es wären nur An-
haltspunkte und Sie hätten das alles aus-
wendig gelernt, weil Sie immerfort ins
Publikum sahen?“
Es wird sich wohl niemand wundern, wenn
ich in diesem Augenblick wirklich wünschte,
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Und nicht wenn er es das erste Mal diri-
giert, gestaltet er es von neuem, nein! jedes-
mal, falls er ein Echter ist und in leiden-
schaftlichem Verhältnis zu seinem Werk
steht. Man veranstalte eine Rundfrage,
welchem Komponisten es möglich wäre,
sein Werk mehrmals in genau dem gleichen
Rhythmus und in der gleichen Dynamik
wiederzugeben; äusser es wäre für ihn
abgestorben und dann ist es, wie man wohl
behaupten kann, nicht mehr sein Werk.
Nie wird bei einer Probe, nie im stillen
Zimmer beim Schreibtisch ein Werk so
erscheinen können wie im Augenblick, da
es erst gleichsam Wirklichkeit wird. Und
ich möchte darum sagen: Das Publikum
gestaltet es neu, gestaltet es mit.
Ein Beweis, ein Zeugnis für die noch un-
erforschte, ganz eigenartige Natur des
Stimmungsfluidums, das von den Sessel-
reihen zum Podium und wieder zurück-
schwingt, dem Austausch des Gebergenusses
und der Empfangsfreudigkeit erscheint mir
der rätselhafte Umstand, dass wohl jeder
Vorleser, Schauspieler, Sänger genau fühlt,
wann er im Kontakt mit seinem Publikum
ist, wann er sich von ihm entfernt oder sich
ihm nähert. Viele berichteten mir schon
über solche Erfahrungen. Man könnte ja
wohl glauben, der Künstler sieht die
Spannung oder Interesselosigkeit in den
Gesichtern vor sich; aber das kann es
allein nicht sein. Denn woher hätte ich
dann die gleiche Empfindung? Und ich
fühle genau den Ausdruck der hundert
Augen, die auf mich gerichtet sind, wie mir
denn überhaupt — und auch andere Blinde
bestätigen es mir durch ähnliche Beobach-
tungen — auch mit einem Einzelnen
immer scheint, als redete ich nur zu seinen
Augen.
Ich wurde oft schon in der Unterhaltung
mit besten Freunden irritiert, wenn sie mich
nicht ansahen und wenn man, wie man es
begreiflicherweise gewöhnlich zu machen
pflegt, sobald man mich nicht versteht oder
mit dem was ich sage nicht einverstanden
ist, die fragenden Blicke statt an mich, an
meine Begleitperson richtet.
Als ich zum ersten Mal die Inspiration der
unmittelbaren Wirkung zu fühlen bekam,
doppelt trunken nach dem Rausch der un-
gekannten Begeisterung, vom Podium in das
kleine Zimmer daneben floh, hielt ich den
Applaus meiner Freunde und der Freunde
meiner Freunde, die damals den kleinen
Saal füllten, für die Zustimmung, für den
Dank, die Antwort der Welt, und ich nahm
diese Musik mit der Rührung und Scham
eines Menschen entgegen, der nicht ich war,
sondern einer, der ich in einem eitlen
Kindertraum hatte sein wollen. Da brachte
man mir Leute aus der Zuhörerschaft, die
es mit mir zu reden verlangte, die etwas
für mich auf dem Herzen hatten. Es war
mir, als seien es die, die mir die neue Ge-
stalt, die Auferstehung meiner geschriebenen
Gedanken geschenkt hatten; und ich empfing
sie voll glücklicher Innigkeit und freute
mich, ihr Anliegen zu hören. Und sie fragten:
„Bitte, könnte ich Ihre Schrift mal von der
Nähe sehen?“ „Nein, wie können Sie bei
diesem Punktgewirr Buchstaben unter-
scheiden?“ „Ich dachte, es wären nur An-
haltspunkte und Sie hätten das alles aus-
wendig gelernt, weil Sie immerfort ins
Publikum sahen?“
Es wird sich wohl niemand wundern, wenn
ich in diesem Augenblick wirklich wünschte,
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