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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (3) — 1921

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Nr. 241 - Nr. 250 (15. Oktober - 26. Oktober)
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Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung der Amtsbezirke Heidelberg, Wiesloch, Sinsheim, Eppingen, Eberbach, Mosbach, Buchen,
Adelsheim, Boaeberg, Tauberbischofsheim und Wertheim.

Bezugspreis: Monatlich einschl. Trügerlohn 5.— Mk. Anzeigenpreise:
Die einspaltige Petitzeile (36 mm breit) 1.30 Mk., Reklame-Anzeigen
(93 mm breit) 2.50 Mk. Bei Wiederholungen Nachlaß nach Tarif.
Eeheimmittelanzeigen werden nicht ausgenommen.
Geschäftsstunden: 8—'/z6 Uhr. Sprechstunden derRedaktion: 11—12Uhr.
Postscheckkonto Karlsruhe Nr. 22 877. Tel.-Adr.: Volkszeitung Heidelberg.

Heidelberg, Dienstag, 18. Oktober 1921
Nr. 243 * 3. Jahrgang

Verantwort!.: Für innere u. äußere Politik, Volkswirtschaft u. Feuilleton:
Dr.E. Kraus; für Kommunales, soziale Rundschau und Lokales!
O. Geibel; für die Anzeigen: H. Horchler, sämtliche in Heidelberg
Druck u. Verlag der Unterbadischen Verlagsanstalt G.m.b.H., Heidelberg.
Geschäftsstelle: Schröderstraße 39.
Fernsprecher: Anzeigen-Annahme 2673, Redaktion 2648.

Um dar Kabinett Wirth.
Rsichstagssitzung am Donnerstag.
Wieder einmal wie schon im Frühjahr dieses Jahres gibt
Deutschland, geben die deutschen Reichstagspolitiker dem Ausland
ein jämmerliches Bild politischer Unreife, Unfähigkeit und Unfrucht-
barkeit. In diesem Augenblick höchster Gefahr, wo
.alle Kraft daraus konzentriert werden müßte, inwieweit sich die
verhängnisvollen Folgen der Zerreißung Oberschlesiens abwenden
oder doch mildern lassen und inwieweit etwa auf Grund der Genfer
Entscheidung sich doch noch ein modus vivendi zwischen Deutschland
und Polen finden läßt, konzentriert sich in Berlin alles Interesse
aus Regierungskrise und Kaöinettsrücktritt. Es scheint, daß in den
letzten Tagen die „Krisen- und Rücktrittstheoretiker" in den bürger-
lichen Regierungsparteien wieder die Oberhand gewonnen haben,
vor allem scheint das Zentrum unter allen Umständen die Verant-
wortung für das Kanzleramt nicht mehr übernehmen zu wollen.
Gestern nachmittag sand beim Reichskanzler eine interfraktio -
nelle Sitzung statt, über die folgendes Privattelegramm
vorliegt:
Berlin, 17. Okt. Die Besprechungen der Parteiführer mit
dem Reichskanzler, die heute nachmittag um 4 Uhr begannen, wur-
den erst spät abends beendet. Das Zentrum war durch Abg.
Marx, Dr. Spahn und Becker- Arnsberg vertreten, die De-
mokraten durch die Abgg. Petersen, Koch und Erkelenz.
Für die Sozialdemokraten waren Hermann M üller und
Wels erschienen. In der Konferenz wurde die ganze Lage, die
durch die Entscheidung in Genf entstanden ist, erörtert mit ihren
Rückwirkungen auch auf die innere und äußere Politik des Reiches.
Auch die Frage der Kohlenverteilung wurde besprochen und an
diesem Teil der Erörterungen nahmen auch Vertreter der Deut-
scher: Bolkspartei teil, die durch die Abgg. Stresemann
und Kemples vertreten waren. Die Besprechungen werden mor-
gen mittag fortgesetzt werden. Man hofft, daß bis dahin vom
Reichsverband der Deutschen Industrie feste Beschlüsse bezüglich des
Kreditangebotes vorltegen, so daß die Steuer- und Finanz-
fragen, in denen die Meinungen bekanntermaßen noch sehr weit
auseinander gehen, aus dieser Grundlage besprochen werden könn-
ten. Beschlüsse in dem Hauptberatungspunkt wurden nicht gefaßt,
insbesondere auch nicht darüber, ob und wann das Kabinett ge-
gebenenfalls zurückzutreten habe.
Wenn die interfraktionelle Aussprache die von mancher Seite
erwartete Entscheidung über den Bestand des Kabinetts nicht ge-
bracht hat so hat sich auf der anderen Seite kein Moment ergeben,
das auf eine Aenderung in der Stimmung der Parteien schließen
lassen könnte. Da aber zugleich feststeht, daß die Schwierigkeiten,
die einer Neubildung des Kabinetts und der Verbreiterung der
Koalition von den Sozialdemokraten bis zur Deutschen Volkspartei
entgegensteven, immer noch recht groß sind, besteht nach wie vor die
Gefahr, daß nach dem Rücktritt de Kabinetts das Reich
eine Krise von längerer Dauer mit allen ihren unerfreulichen Be-
gleit- und Folgeerscheinungen erlitte.
Das fehlte gerade noch, daß wir jetzt, wo ein klarer, stetiger
und zielsicherer außenpolitischer Kurs notwendiger denn je ist, eine
Regierungskrise von längerer Dauer bekämen. Es scheint tatsäch-
lich, daß man in Berlin vollkommen vergißt, daß es in der Demo-
kratie Aufgabe der Regierung ist, politische Führerin zu
fein. Wir haben schon vor 8 Tagen, gleich nachdem die ersten
Krisengerüchte auftauchten, die Auffassung geäußert, daß absolut
kein Grund zum Rücktritt des Kabinetts Wirth und zu irgend einer
Aenderung des außenpolitischen Kurses bestehe und wir stehen auch
heute noch auf genau demselben Standpunkt. Aber nicht nur die
Deutschnationalen scheinen an der gegenwärtigen Situation wieder
einmal in demagogischster Weise ihr Parteisttppchen kochen zu wol-
len, sondern vor allem wird es immer deutlicher, daß die Volks-
parteiler den Moment benützen wollen, in die Regierung zu
kommen und deren Kurs so weit als möglich nach rechts zu drehen.
Dagegen wenden wir Sozialdemokraten uns aufs allerentschiedenste
und wir freuen uns, daß diese Stellung auch im gestrigen „Vor -
wä r t s" mit aller Entschiedenheit zum Ausdruck kommt in folgen-
den Sätzen, denen Wir uns vollinhaltlich anschlteßen:
„Sachlich wird die um- oder neugebildete Regierung wenig-
stens nach außen hin keine andere Politik treiben können, als
Wirth sie getrieben hat. Man spricht davon, daß nach dem Kabi-
nett der „unbedingten Erfüllung" ein Kabinett der
„bedingten Erfüllung" gebildet werden soll, aber diese
Unterscheidung ist Unsinn. Auch die Politik Wirths war leine
Politik der „unbedingten" Erfüllung, die gibt es überhaupt nicht,
sondern auch sie ist bedingt durch den Rechtsgrundsatz, daß Nie-
mand über sein Können hinaus verpflichtet werden kann. Jeder
Versuch, die Ersüllungspolitik an andere Bedingungen zu knüpfen,
würde an den bestehenden Machtverhältnissen scheitern und kata-
strophale Rückwirkungen herbeiführen. Wollte jedoch eine neue
Regierung, weil sie muß, genau so handeln, wie die Regierung
Wirth gehandelt hat ihre Handlungen aber durch Nationa-
list i s ch e R e d e n s a r t e n zu verschleiern suchen so könnte sie
Wohl dadurch innerpolttisch aus das Gefühl eingestellte Kreise
für sich gewinnen, die auswärtige Lage Deutschlands würde sich
aber dadurch ohne jeden Gegenwert verschlechtern. Daraus
geht hervor, daß die Sozialdemokratie eine Aenderung des
außenpolitischen Kurses nicht mitmachen kann. Soll sie herbei-
geführt werden, so müssen wir dafür sorgen, daß die Verantwor-
tung für diese ausschließlich auf die Schultern derer fällt, die sie
gewünscht Haven. Ebensowenig kann die Sozialdemokratie auf
keinen Fall einer Regierung ««gehören, die ihren innerpolitischen
Kurs weiter nach rechts dreht. Lassen sich für eine Politik des
verstärkten Schutzes der Republik und des sozialen Fortschritts
neue zuverlässige Stützen gewinnen, so kann uns das nur recht
sein.. Eine_nach rückwäxts gerichtete Entwicklung wird die Soztar-

Die 13 Hauptpunkte der VölLerbrmds--
entscheidung.
Berlin, 17. Okt. (Priv.-Lel.) Der „Observer" hat gestern
die grundlegenden Daten der oberschlesischen Entscheidung ver-
öffentlicht. Danach zerfällt die Entscheidung des Völkerbundes in
13 Punkte, von denen die meisten nach ihrem wesentlichen Inhalt
schon bekannt sind.
Wir entnehmen daraus folgendes: 1. Die Grenze, die das In-
dustriegebiet durchschneidet, wird nach den Grundsätzen gefaßt sein,
daß ein Mintmum Von Polen aus deutscher und ein M int -
mumvonDeutschenauf polnischer Seite zurückbleibt. 2. Der
Kern der Streitigkeiten ist wirtschaftlicher Art, daher die
wirtschaftlichen Maßnahmen, die fünfzehn Jahre dauern sol-
len. Es wird vorgefchlagen, eine mehrgliedrige Kommission von
Deutschen und Polen einzusetzen, falls beide Teile es wünschen,
unter dem Vorsitz des Völkerbundes. 3. Die Eisenbahnen sollen
einheitlich ein zusammenhängendes System innerhalb des Indu-
striegebietes sein. Der Reingewinn wird entsprechend geteilt. 4. Um
eine Zollgrenze zu gewährleisten, werden zweiUebergangs-
Perioden von 6 Monaten und 14)4 Jahren eingerichtet. 5. Wäh-
rend der Periode von 6 Monaten soll die politische Grenze nicht
existieren. 6. In der Periode von 14)4 Jahren dürfen alle Roh-
stoffe die Grenze ohne Zollabgaben passieren. Güter für
abzuschlietzende Fakturen sollen gleichfalls abgabefret sein. 7. Die
gemischte Kommission soll ein Abkommen zwischen Deutschen und
Polen für den ungehindertenEx Port solcher Rohstoffe aus-
arbeiten, die von der Industrie der anderen Seite gebraucht werden.
Ein besonderer Paragraph soll eingeführt werden, durch den
Deutschland verboten wird, Einfuhrzoll aus Güter aus
Polen zu legen. 8. Innerhalb von 15 Jahren dürfen keine ge -
waltfamenEntetgnungen von Privateigentum vorgenom-
men werden. 9. 15 Jahre lang haben die Deutschen auf polnischer
Seite das Recht, für die deutsche Staatsangehörigkeit zu optie-
ren. 10. Die deutsche Mark ist gesetzliches Zahlungsmittel in der
polnischen Zone. 11. Die deutsche Sozialgesetzgebung bleibt
in Kraft, bis die polnische Regierung entsprechende eigene Gesetze
erläßt. 12. Die Wasserversorgung bleibt unter internationaler Kon-
trolle. 13. Die jetzige Elektrizitätskrastlieferung wird nicht unter-
brochen.
Die Polen erhalten nach 3 Jahren das Recht, die Kraftstation
Chorcow oder Zabrze zu kaufen.
Ueber die Grenzlinie teilt der Observer nichts Genaueres
mit. Außer Pletz und RYbnik sollen die fast rein deutschen Städte
Kattowitz, Königshütte und Tarnowitz an Polen fallen.
demokratie auf keinen Fall mitmachen und ebensowenig ist von
ihr zu erwarten, daß sie sich an einer Steuerpoltik beteiligen
Wird, die es unterläßt, für die Heranziehung des Besitzes zu den
Lasten des Reiches realste Garantien zu bieten. Auf keinen Fall
soll man sich darauf verlassen, die Sozialdemokratie werde, wenn
die Not offenbar werde, schon wieder einspringen. Wenn durch
das Verhalten der bürgerlichen Parteien eine Notlage geschaffen
wird, dann mögen sie auch die Mittel der Abhilfe schaffen. Wenn
sie ein künstliches Labyrinch erzeugen, dann müssen sic auch den
Ausweg finden. Wenn irgend Jemand glauben sollte, die So-
zialdemokratie als den Pudel behandeln zu dürfen, der gehorsam
apportiert, was andere mutwillig ins Wasser geworfen haben,
dann hat er seine Rechnung nicht nur ohne den Wirth, sondern
auch ohne die Sozialdemokratie gemacht."
Soeben trifft noch die Meldung ein, daß der Aeltestenausschutz
des Reichstags gestern beschlossen hat, die Plenarsitzung des Reichs-
tags für Donnerstag einzuberusen. Die Zeit der Sitzung wird
davon abhängig sein, wann die amtlichen Mitteilungen über die
Genfer Beschlüsse in Berlin etntreffen.

Politische Ueberficht
Kern Ergebnis!
Wie der „Vorwärts" mittellt, ist die gestrige Sitzung des
interfraktionellen Ausschusses ergebnislos verlausen. Die Frage
der Demission des Kabinetts wurde nicht gelöst und in der Steuer-
frage konnte kein Fortschritt erzielt werden, da bestimmte Nachrich-
ten über die geplante Kredithilfe der Industrie nicht vorlagen.

Eine schwedische Stimme für Vas
Kabinett Wirth.
Stockholm, 17. Okt. Das konservative „Svenska Dagbladed"
kritisiert die von der „Deutschen Tageszeitung" erhobene Forderung
des Rücktritts des R eichskanzlers Wirth. Die unbeherrschte
Haltung der Deutschnattonalen Bolkspartei sei bequem, da diese
Partei unmöglich für die Regierungsbildung in Betracht komme.
Unverständlich würde es aber auch sein, wenn das Zentrum den
Rücktritt Wirths wünsche, dennoch aber auf die Wtederbesetzung
des Reichskanzlerpostens reflektiere.
Wirth oder Ludendorff?
Aus Berliner politischen Kreisen wird uns geschrieben:
Die Ereignisse der letzten Tage muten geradezu wie ein klassi-
sches Schulbeispiel für die Tatsache des engsten Zusammenhanges
zwischen innerer und äußerer Politik an. Das Problem Ober-
schlesien, an dem mitzuarbetten Wohl den Vertretern Chinas und
Brasiliens, nicht aber denen Deutschlands vergönnt war, und das
zu einer reinen Angelegenheit des Völkerbundes, in dem Deutsch-
land legichfalls nichts zu sagen hat, bezw. des Obersten Rates
wurde,, hat jnnerpolitisrhe Wirkungen von überraschenden Aus-

maßen hervorgerufen. Die Koalitionsverhandlungen zwischen
den Parteien über die Umbildung der Reichsregierung, die in
friedlichem Schriftwechsel dahtnplätscherten, wurden jäh unter-
brochen, und heute stehen wir vor einer Situation so voller
Spannungen, so voller Erwartungen, so voller Neueigkeiten, daß
die Ereignisse von gestern in nebelhafte Ferne gerückt zu sein
scheinen."'
Die deutschmonarchistische Presse sucht die höchst unerfreuliche
Lage der deutschen Republik im üblichen Sinne der Parteidemo-
gogie und Parteiagitatton auszubeuten, ohne sich um die Folgen
einer solchen „Politik" zu bekümmern. Auf deutschmonarchtstischer
Seite argumentiert man folgendermaßen: Das Wirth-Kabinett
bezeichnet sich nach feinem Zusammentritt als das Kabinett der
Erfüllung. Es kämpfte für Oberschlesiens Erhaltung. Es hat
erfüllt, so weit es in seinen Kräften stand und dennoch Over-
schlesien verloren. Folglich hat es sofort von der Bildfläche zu
verschwinden. Diese Argumentation scheint folgerichtig aufge-
baut zu sein, entbehrt aber doch des logischen Zusammenhanges
und der inneren Notwendigkeit. Betrachtet man die Dinge ob-
jektiv nach ihrem historischen Verlauf, so muß man zu einem
völlig anderen Ergebnis gelangen:
In diesem Augenblick, in dem zwar der Wortlaut der Ent-
scheidung noch nicht vorliegt, die Zerreißung des overschlesischen
Körpers jedoch eine unbestreitbare Tatsache ist, ist nichts gefähr-
licher als die nationalistischen Redensarten, man müsse nunmehr
den Versailler Vertrag zerreißen und vom Wiesbadener Abkom-
men zurücktreten. Die berüchtigten Worte vom „Fetzen Papier"
haben Deutschland schon einmal in eine Situation gebracht, die
zu einer ungeheuren Katastrophe, zu dem 4^jährigen Weltkrieg
nämlich geführt hat. Man begreift es kaum, daß es immer noch
Menschen gibt, die skrupellos genug sind, um das deutsche Volk
aufs Neue in eine unheilvolle Katastrophe hineinzupcirfchrn. In
der gegenwärtigen Situation — diese Tatsache kann nicht genug
unterstrichen und nicht genug wiederholt werden — gibt es über-
haupt reinen Menschen, fei er Politiker, Finanzwiffenschafter oder
Wirtfchaftsspczialist, der in der Lage wäre, sestzustellen, was wir
nach der Losreißung OSerfchlestens zu erfüllen oder nicht zu er-
füllen imstande sind. Man wird doch Wohl nicht ernstlich behaup-
ten Wollen, daß sämtliche Voraussetzungen zur Leistung unserer
Vertragsverbindlichkeiten an den Besitz von Oberschlesien geknüpft
waren! Man braucht in diesem Zusammenhang nur an den Ver-
sailler Vertrag zu erinnern, in dem die Abtrennung Oberschlesiens
von Deutschland einen der von der deutsche» Regierung feierlich
unterschriebenen Punkte bildete, die im Sinne einer Volksabstim-
mung avzuändern nur den unablässigen Bemühungen der demo.
kratischen Reichsregierung gelang. Dieses Argument also, wo-
nach die Erfüllung einzig und allein von dem Besitz Oberschlestens
abhängt, bricht in sich zusammen. Zudem wissen wir nicht ein-
mal, in welcher Weise die Abtrennung erfolgen wird. Zunächst
gewinnt es den Anschein, daß man Polen staatsrechtlich zwar den
größten Teil von Oberschlesien zuerteilen und in diesem Gebiet
das deutsche Souveränitätsrecht aufzuheben gedenkt, daß man
jedoch den Wirtschastskörper Oberschlesiens nach wie vor ungeteilt
der ökonomischen Inanspruchnahme durch Deutschland zugesichert
wissen will. Man kann darüber streiten, ob eine wirtschaftliche
Fruktisizierung ohne die staatsrechtliche Gebietshoheit Erfolge
verspricht, — und man wird sich hier nicht überragenden Hoffnun-
gen hingeben dürfen — man darf jedoch nicht von vorneherein
mit dem Pathos des Propheten ein „Unmöglich" ausfprechen, das
unter dem Zwange der Verhältnisse doch über kurz oder lang revi-
diert »verben müßte.
Wie steht es mit der weiteren Forderung der Deutschnationa-
len nach dem Rücktritt der gegenwärtigen Reichsregterung? Wer
eine Regierung beseitigen will, muß sich darüber klar sein, wen er
an ihre Stelle zu setzen gedenkt. Glauben die Deutsehnationalen
wirklich, daß etwa ein Kabinett der Rechtsparteien, an dessen
Spitze vielleicht Stresemann das Portefeuille eines Reichskanz-
lers, Hergt das eines. Außenministers und Helfferich das eines
Ftnanzministers inne hätte, eine Autorität im Auslande erringen
würde, dem demkratisch-sozialtstischen Kabinett versagt blieb? Es
ist eine Dreistigkeit, die selbst in der Geschichte der Konservativen
einzig dasteht, zu verlangen, daß diejenigen, die uns in die gegen-
wärtige Situation hineingerissen haben, aufs Neue die Leitung
der Republik übernehmen sollen, der sie als schärfste Feinde gegen-
überstehen. Eine oberflächlichere Darstellung als die Behauptung,
Wirth habe die Abreißung Oberschlestens verschuldet, ist nicht
denkbar. Verschuldet haben die Abreißung Oberschlesiens diesel-
ben Männer, die den Versailler Vertrag auf dem Gewissen haben,
und die durch rücksichtsloses Vabanquespiel für Deutschland den
Weltkrieg verloren. Weil Ludendorff einer der Hauptschul-
digen an der deutschen Katastrophe ist, sollte man mit freundlicher
Geste seinen politischen Freunden die Ministersessel einräumen?.
Die deutsche Politik der nächsten Wochen kann sich, wenn nicht
ganz unvorhergesehene Ereignisse etntreffen, nur in folgenden
Richtlinien bewegen: Es ist eine natürliche Folge des Beschlusses
des Völkerbundes, daß das Kabinett Wirth dem Parlament als
der verfassungsmäßigen berufenen Vertretung des ganzen deut-
schen Volkes die Demission anbietet. Es ist jedoch ebenso selbst-
verständlich, ja eine politische Notwendigkeit, daß die demokratische
Mehrheit des Reichstages dem Kabinett iür Vertrauen aus-
spricht und es auffordert, weiter die Geschicke des Volkes zu len-
ken. Für das Kabinett Wirth gibt es keine Schuldfrage. Die ist
an ganz anderer Stelle zu suchen und zu finden. Mögen sich die-
jenigen, in deren Nähe wir die Schuld an der Katastrophe wissen,
davor hüren, aufs Neue eine Katastrophenpolitik zu betreiben, die
Deutschland um den letzten Rest seines innen- und außenpoliti-
schen Ansehens bringen Müßte. Wenn es überhaupt einen Licht-
schimmer in dieser ernsten Zett gibt, so rührt er von der Hoffnung
her, bas Kabinett Wirth, gestärkt durch das Vertrauen des Reichs-
tages,. aufs Neue aus der Krise hervorgehen zu. sehen,
 
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