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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (3) — 1921

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Nr. 251 - Nr. 260 (27. Oktober - 7. November)
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LagLLZTitAng für die Werktätige BsVölkermrg der AmtsdeZirke Heidelberg, Wiesloch, Sinsheim, Eppinger», Eberbach, Mosbach, Buchen,
Adelsheim, Boreberg, Tauberbischofsheim und Wertheim.

Heidelberg, Freitag, 28. Oktober 1921
Nr. 262 » 8. Jahrgang

Bezugspreis: Monatlich einschl. TrSgerlohn 6.— Mk. Anzeigenpreise:
Die einspaltige Pctitzeile (36 rnm breit) 1.30 Mk-, Reklame-Anzeigen
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Gsheimmittelanzeigen werden nicht ausgenommen.
Gcschaftsstunden: 8—Vs6 Uhr. Sprechstunden der Redaktion: 11—12 Uhr.
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Verantwort!.: Für innere ».äußerePolitik, Volkswirtschaft ».Feuilleton;
Dr.E. Kraus; für Kommunales, soziale Rundschau und Lokales:
O. (Seibel; für die Anzeigen: H.Horchler, sämtliche in Heidelberg.
Druck u. Verlag der Unterbadischen Verlagsanstalt G. m. b. H., Heidelberg.
Geschäftsstelle: Schröderstraße 39.
Fernsprecher: Anzeigen-Annahme 2673, Redaktion 2648.

Politische Ueberficht.
Das Zweite Kabinett Wirth.
* Heidelberg, den 23. Oktober.
Nachdem die Demokraten unter Zurücklassung eines große«
Scherbenhaufens geflüchtet waren, hat der Reichspräsident am
Dienstag abend den letzten noch möglichen Ausweg betreten und
den Reichskanzler Dr. Wirth abermals mit der Bildung der Re-
gierung betraut. Die neue Regierung kann keine Koalitionsregie-
rung sein, nachdem die Koalition von den Demokraten gesprengt
worden ist. Man ist also zum erstenmal in Deutschland dazu über-
gegangen, eine Regierung zu schaffen, die sich nicht auf ein festes
Parteibündnis stützt, sondern die von dem leitenden Mann gebildet
wird ans den Parteien oder auch einzelnen Persönlichkeiten, die
bereit sind, die Politik des leitenden Mannes zu stützen.
Auch zwischen Zentrum und Sozialdemokratie besteht kein
eigentliches Koalttionsverhältnis mehr. Da aber von diesen bei-
den Parteien der Stamm der Regierung gestellt wird, ist anzuneh-
men, daß zwischen ihnen beiden ein Verhältnis des Zusammen-
arbeitens ausrechterhalten bleiben wird. Es wird sich nicht in den
bisherigen Formen geltend machen, daß die Fraktionsvorstände
zu gemeinsamen sogenannten „interfraktionellen" Beratungen zu-
sammentreten.
Es kann innerpolitisch einen Fortschritt bedeuten, wenn die
Regierung aus allzu engen Fesseln des Fraktionszwanges befreit
wird. Ihr Bestand oder ihr Sturz wird freilich wiederum von
der Haltung der Fraktionen abhängen, da diese fast stets im Neichs-
Lagsplenum na chzuvor gefaßten Beschlüssen entscheiden. Aber die
Vorherrschaft der Fraktionsvorstände ist beseitigt, sie mutzte beseitigt
werden, weil sie sich in der letzten Krise als unübersteigbares Hin-
dernis für die Regierung erwies.
Gemäß dem neuen Grundsatz, keine Partei als solche in die
Regierung auszunehmen, keine als solche aus ihr auszuschließen,
war der Reichskanzler Dr. Wirth bereit, auch Demokraten in der
Regierung zu belassen oder sie in diese neu auszunehmen. Die
Demokraten haben es srrtiggebracht, den Reichskanzler noch einen
halben Tag im Ungewissen zu lassen, und erst Mittwoch vormittag,
als das Kabinett schon zusammentreten sollte, beschlossen sie, ihre
Fraktionskollegen aus ihm herauszuziehen. Für demokratische
Fraktionsmitglieder besteht also jetzt ein Verbot, in die Regierung
Wirth einzutteten, für demokratische Parteimitglieder schein-
bar nicht. Der parlamentarische Kretinismus erfindet feine Un-
terschiede.
Was für den letzten Beschluß der Demokraten bestimmend war,
ist ganz klar. Wären die Demokraten im Kabinett geblieben, so
hätte auch das einfältigste Parteimitglied auf die Frage kommen
müssen, warum sie denn erst den ganzen Skandal angestellt hätten,
wenn sie es schließlich doch beim Alten beließen. Das durfte nicht
kommen, und darum machten die Demokraten am Dienstag dem
Zentrum noch in letzter Stunde den Verzweislungsvorschlag, es
möchte doch mit ihnen, unter Ausschluß der Sozialdemokratie, eine
Neue Koalition bilden, was vom Zentrum mit höflichem Lächeln
abgelehnt wurde. Als reuige Sünder und begossene Pudel in die
Regierung Wirth zurückzukehren, war den Demokraten unmöglich.
Sie mußten also draußen bleiben, sie hatten sich selber aus der
Regierung hinausmauövriert und sich in eine Lage gebracht, bet
deren Anblick sich an einem mitleidigen Menschen jedes Haar vor
Entsetzen sträubt.
Die Stärke des Kabinetts Wirth beruht auf zwei Umstände«.
Erstens ist jetzt durch Experiment bewiesen, daß kein Mensch Weitz,
was an seine Stelle kommen soll, wenn es fällt. Zweitens besteht
— und das hängt mit dem Umstand zusammen — keine bewußt
wollende, einheitliche, zusammensatzbare Opposition. Bis in die
Volkspartei hinein ist man sich dessen bewutzt, daß eine aus die
äußerste Rechte gestützte Regierung- nichts anderes könnte, als dem
Reich eine neue Katastrophe bereiten. Wenn die Demokraten und
die Volksparteiler so tun, als wäre ihnen die Regierung Wirth in
der Vertretung nationaler Interessen nicht forsch genug, so ist das
weiter nichts als ein ganz bewußter Agitationsschwindel, denn
Positive Vorschläge, wie man die nationalen Interessen Vesser wah-
ren könnte, wissen sie nicht zu machen. Die Volkspartei hat sich mit
ihrem blödsinnigen Vorschlag, man solle erst bei der Entente an-
fragen, ob die Entsendung eines Bevollmächtigten die Anerkennung
der Teilung Oberschlesiens in sich schließe, nur bis aus die Knochen
blamiert. Konsequent sind nur die Deutschnationalen, die von
einer Entsendung des Bevollmächtigten überhaupt nichts wissen
wollen, und denen es ganz Wurst ist, was dann aus Oberschlesien
wird.
Ein einheitlich geführter Stoß Von rechts gegen das Kabinett
Wirth ist also nicht zu erwarten. Von den Unabhängigen wird
Wan dagegen bis auf weiteres annehmen dürfen, daß sie bereit sein
werden, es mit aller Kraft zu unterstützen. Geschieht das, so kommt
Wan zunächst über das Schlimmste hinweg. Was dann weiter wird
m einem Lande, dessen Bürgertum politisch so total versagt, kann
freilich niemand Voraussagen. Unsere einzige Zuversicht liegt in
«er Stärke unserer eigenen Partei. Jetzt müßte doch eigentlich jeder
Denksähige einsehen, daß es ohne eine starke Sozialdemokratie mit
Deutschland überhaupt am Ende ist. Widerspräche das nicht dem
Wien Sprachgebrauch, so könnte man sagen: Sozialdemokrat sein,
wt heute nationale Pflicht. Nur dir sozialdemokratischen Arbeiter
mnnerr dafür sorgen, daß Deutschland nicht an der beispiellosen
vlitischcn Unfähigkeit seines Bürgertums ganz zugrunde geht.
Der Protest der deutschen Gewerkschaften.
. Berlin, 27. Okt. Der Allgemeine Deutsche Ge-
f'erkschastsbund, der Allgemeine Freie Angestell-
^üvund, der Deutsche Gewerkschastsbund, der Dertt-
w)e Gewerkschaftsring und der Deutsche Beamtenbund
^öffentlichen nachstehenden Protest gegen die Vergewaltigung
^Mchlestens: ..

Die deutsche Antwort an die Entente.
Berlin, 27. Okt. Der deutsche Botschafter in Paris hat
Heute der Botfchafterkonferenz folgende Note übermittelt: Die
deutsche Regierung hat mit tiefer Enttäuschung vo« der
Note des Obersten Rates vom 20. Oktober Kenntnis genommen.
Sie erblickt in dem territoriale« und wirtschaftliche« Diktat, das
dadurch dem deutschen Volke auferlegt wird, nicht allein eine Un-
gerechtigkeit gegen das deutsche Volk, der sie wehrlos gegenüber-
steht, sondern auch eine Verletzung des Versailler Vertrags, dem
die in Gens getroffene und von den alliierten Hauptmächte« an-
genommene Entscheidung widerspricht. Die deutsche Regierung
legt daher gegen den hierdurch geschaffenen Zustand als
gegen eine Rechtsverletzung
ausdrücklich Verwahrung ein. Lediglich unter dem Druck der in
der Rote ausgesprochenen Drohungen, und um der deutschen Be-
völkerung des overschlesischen Industriegebietes die sonst bevor-
stehende Verelendung soweit wie möglich zu ersparen, steht sich die
deutsche Regierung gezwungen, dem Diktat der Mächte entsprechend
dis darin vorgesehenen Delegierten zu erneuen. Die Namen der
Delegierten werden unverzüglich mitgeteilt werde«.
Ohne Rücksicht aus die feierliche Willenserklärung der
Bevölkerung, ohne Beachtung zwingender Vorschriften des
Versailler Vertrages und ohne jede Erwägung darüber,
wie Deutschland die würgende Last der Reparations-
verpflichtungen künftighin tragen kann, beschlossen der Völ-
kerbund und die Hauptmächte der Entente
das Unrecht der Teilung Oberschlesiens.
Gegen die Entscheidung erhebt die Gesamtheit der deutschen Arbeit-
nehmer durch ihre Spitzenorganisationen vor aller Welt schärf-
st e n P r o t e st. Sie erblicken in diesem dem deutschen Volke ohne
jede Anhörung ausgezwungenen Beschluß der Vergewalti-
gung und einen Rechtsbruch schlimmster Art und eine
Handlung, die außerdem im schärfsten Widerspruch mit dem wie-
derholt feierlich verkündeten Zweck des Völkerbundes (friedliche
Regelung internationaler Streitigkeiten) steht. Gegen ihren
ausdrücklichen Willen, gegen den Geist und Le« Sinn des Ge-
dankens vom Selbstvesttmmungsrecht der Völker sollen Hundert-
tausende deutscher Volksgenossen einem Staate überantwortet wer-
den, der kulturell, sozial und wirtschaftlich rückständig ist. Das in
Deutschland gepflegte gesetzlich festgelegte Koalitionsrecht
der Arbeitnehmer ist in Polen nicht gewährleistet. Rechtlos und
hilflos sind unsere Volksgenossen dem Mitzbaruch der politischen Ge-
walt durch die Behörden preisgegcven. Während das deutsche
Wirtschaftsleben schon nach den ersten Versuchen zur Erfüllung der
Reparationslasten schweren Erschütterungen ausgesetzt ist, werden
ihm wertvolle und unentbehrliche Teile zu Unrecht entrissen. Die
deutsche Arbeitnehmerschaft bekundete wiederholt den ehrlichen
Willen zur Mitarbeit an den Pflichten der Reparation. Dieser
Wille wird durch die Genfer Entscheidung glatt zerschlagen. Es
gewinnt den Anschein, als solle die Reparation verhindert wer-
den, um dann gegen Deutschland mit neue« Zwangsmaßnahmen
Vorgehen zu können.
Dreizehn Millionen deutscher Arbeitnehmer spreche«
hiermit gegen ihren Willen uns entrissenen Oberschlesiern ihr
innigstes Mitgefühl aus. Wir werden nie aufhören, Euch als
Volksgenossen zu betrachten und werden nie erlahmen, zu
betonen, daß wir die Zerreißung Oberschlesiens, die entgegen dem
einwandfrei festgestellten Mehrheitswillen der beteiligten Bevöl-
kerung und entgegen der Vernunft und Gerechtigkeit erfolgt ist,
als brennendes Unrecht zu betrachten. Wir appellieren an
das Gewissen der ganzen Kulturwelt in der festen Zuversicht, daß
mit Hilfe aller ehrlichen Menschen und im Geiste der Völkerver-
söhnung auch das Recht auf unsere overschlesischen Volksgenosse«
Anwendung findet!
Dr. Schiffer deutscher Unterhändler.
Berlin, 27. Okt. Das Reichskabinett hat, wie wir
hören, heute nachmittag zum deutschen Bevollmächtigten Mr die
Verhandlungen über das Wirtschaftsregime mit Polen den bis-
herigen Reichsjustizminister Schiffer bestimmt. Als sein Vertreter
ist der bisherige Staatssekretär im Reichsminiflerium des Innern
Dr. Lewald bestellt worden, der damit aus dem Reichsministerium
des Innern aus scheid et. Den deutschen Bevollmächtigten,
deren Ernennung noch heute der Botschafterkonferenz
offiziell mitgeteilt worden ist, wird ein Stab von Sachver-
ständigen beigegeben, deren Mitglieder im Einvernehmen mit
den Vertretungen der Oberfchlester selbst ausgewählt werden. Ort
und Zeitpunkt des Beginns der Verhandlungen sind noch nicht
festgesetzt; wahrscheinlich werde« dis Verhandlungen in Oppeln ge-
führt werden.
Zum Mordanschlag auf den Genosse« Auer
wird dem „Vorwärts" aus München gedrahtet:
München, 26. Okt. Gestern abend war im Sekretariat der
Sozialdemokratischen Partei Sitzung des Vorstandes, zu der auch
die „Münchener Post" eingeladen war. Nach der Sitzung ging Ge-
nosse Auer mit mehreren Begleitern seinen gewohnten Weg nach
Hause. Am südlichen Friedhof wurden aus dem Friedhofstor
heraus von einem hinter dem Gitter stehenden Attentäter auf Auer
rasch hintereinander aus nächster Entfernung zwei Schüsse abge-
geben. Auer, der hart am Gitter entlanggegangen war, antwortete
sofort mit fünf Schüssen. Man hörte einen Schrei. Den Attentäter
zu verfolgen war unmöglich, da die Gittertore gesperrt
sind und ein Erklettern der Mauern nicht möglich war. Der Fried-
hof wurde ao gesucht und man sand als Talbeweis Patronen-
hülsen. Die Planmäßigkeit des Attentats geht daraus hervor. .

daß Auer währens des gestrige« Tages von gewissen Persone«
fortgesetzt verfolgt wurde. Der Mordanschlag ist die
Antwort auf die Enthüllung des Münchener Mördersumpfes,
auf den Kampf, den Auer feit einigen Wochen zur Aufdeckung
derbayerischen Verschwörerzentrale führt. Mangels
einer auch nach der rechten Seite hin funktionierenden Polizei war
Auer gezwungen, durch seinen Nachrichtendienst die fin-
steren Zustände ans Tageslicht zu ziehen, welche die „Münchener
Post" in einer fast täglichen Artikelserie an den Pranger gestellt hat.
Die Prozesse Auers mit dem „Miesbacher Anzeiger" und
dem „Völkischen Beobachter", sein mannhaftes Eintreten
imProzetzKanzler haben osfenbar die Kugeln lockern helfen,
die gestern nacht auf ihn abgeschossen wurden.

Walther Rsiherrmr in MannheiM.
Mannheim, 28. Okt. (Eig. Bericht.) Gestern abend sprach
vor etwa 7000 Menschen Walter Rathenau im Nibelungensaal. Der
erste Teil feiner wirkungsvollen Rede, die einen tiefen Eindruck
hinterließ, war der Genfer Entscheidung über
Oberschlefierr
gewidmet. In scharfen Worten geißelte er, daß der Völkerbundsrat
nicht als höchster Weltgerichtshof entschieden habe, son-
dern als verlängerte Botschafterkonferenz und Anhängsel des
Obersten Rates. Anstatt neues Recht zu schaffe», band er sich an
das Unrecht des Versailler Vertrags. Es ist furchtbar, was ge-
schehen ist. Das Widersinnige, das sich selbst widerlegt, erinnert
uns aufs Schmerzlichste an ein anderes Grenzland, das sich in
einer umgekehrten Lage befand, an E ls aß - Lo t h r in g e n. In
diesen Tagen und Stunden ist es der Mühe wert, sich zu erinnern
an die Worte, die am 1. März 1871 in der Pariser Nationalver-
sammlung von einem elsässischen Abgeordneten gesprochen worden
sind. Sie enthielten den Abschied Elsatz-Lothrtngens von Frank-
reich. Diese Worte möchte ich in Erinnerung bringen:
„Durch gehässigen Mißbrauch der Gewalt der
Fremdherrschaft ausgeliesert, haben wir eine letzte Pflicht zu
erfüllen. Noch einmal erklären wir einen Vertrag für null und
nichtig, der ohne unsere Zustimmung zustande gekommen ist. Der
Anspruch aus unsere Rechte bleibt ewig. Wir begleiten Euch
mit unseren Wünschen und harren mit Vertrauen der Zukunft,
da Frankreich Euch wieder zurücknimmt. Euch Brüder von
Elsatz-Lothringen, getrennt in diesem Augenblicke von der häus-
lichen Gemeinschaft, Euch behalten wir in der Erinnerung, bis.
Ihr zur Heimat wtederkehrt."
Dann sprach Rathenau über
die Regierungskrise
und bedauerte die rein negative Haltung der Deutschen Bolkspartei,
Rathenau gab feiner Freude darüber Ausdruck und bezeichnete es
als ein Glück für Deutschland, daß Dr. Wirth abermals die Regie-
rungsbildung übernommen hat. Von den letzten zehn Kanzlern,
die Deutschland gesehen hat, war keiner aus geeigneterem Holz ge-
schnitzt, als dieser süddeutsche Mann von klarem Charakter, kraft-
vollem Temperament, starkem Wille« und gutem, gesundem Ver-
stände. Ueber seinen eigenen
Nichteintritt in das Kabinett
sagte Rathenau:
„Es sind nicht außenpolitische Gründe gewesen,
die mich gegen den Eintritt in das neue Kabinett bestimmt haben,
sondern lediglich der Beschluß unserer Fraktion, die
sich daraus festgelegt hatte, ihre Mitglieder nicht von neuem in
das Kabinett eintreten zu lassem Ich selbst bin diesem Beschlüsse
nicht beigetreten, aber als Demokrat erkläre ich mich mit einem
Beschlüsse auch dann solidarisch, wen« er gefaßt wird
von einsichtigen Männern auch gegen meine Stimme. (Bravo!)
Ich hielt es aber für wünschenswert und glaube dazu bei-
getragen zu haben, daß
Getzler dem Kabinett erhalten
bleibt. Ich hielt seinen Eintritt für erheblich wichtiger und wert-
voller als den meinigen.
Durch meinen Entschluß, mich der Disziplin zu fügen,
war die Möglichkeit gegeben, daß Geßler in das Kabinett zurück-
kehrte. Richt bestimmt, aber erleichtert ist mir der schwere Ent-
schlütz geworden durch Vorkommnisse, die nicht rein politischer
Natur find, von denen aber zu reden in diesem Augenblick vor-
srüht ist.«
Als eine Hauptleistung Wirths bezeichnete Rathenau die Pa -
zifizterung Deutschlands, das Verschwinden der Orgefch
u. a., die Leistung der ersten Goldmilliarde, alles Dinge, durch
Welche eine Atmosphäre geschaffen worden ist, das war eine gute
Politik. Wir können im Kreise der Völker nur leben, wenn wir
uns Vertrauen schaffen und erhalten, wir müssen weiterhin
Leistungspolitik treiben und über die Reparation verban-
deln, wie es im Wiesbadener Abkommen geschehen ist.

ANSlLNÄ.
Vertagung der englisch-irischen Konferenz.
London, 27. Ott. Die für gestern ««gekündigte Sitzung der
irischen Konserenz ist vertagt worden. Auch die Uuterkommission ist
nicht zusammengetreten. Ein Datum für die nächste Sitzring ist
noch nicht festgesetzt. Man bleibt weiter optimistisch. Die Lage
ist jedoch sehr ernst.
Das Genfer Diktat vor dem polnischen Reichstag.
Warschau, 27. Ott. In der gestrigen Sitzung des Sejm-
ausschusses für auswärtige Angelegenheiten wurde eine Resolution
angenommen, in der zum Ausdruck gebracht wird, daß die alliierte
Entscheidung in der oberschlesis' » Frage - Ansprüchen der
polnischen Nation zwar nicht in vollen: Maße Rechnung trage und
 
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