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Parello, Daniel; Hess, Daniel
Die mittelalterlichen Glasmalereien in Marburg und Nordhessen — Corpus vitrearum medii aevi - Deutschland, Band 3,3: Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.52865#0112

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FRANKENBERG • LIEBFRAUENKIRCHE

III

liniert und der schwarze Grund der Schriftbänder schollenweise ausgebrochen. Stark berieben ist auch die Bemalung
der Ornamentscheibe, an einigen Gläsern ist bereits der vollständige Verlust der Blattzeichnung zu bedauern.
Rekonstruktion, ikonographisches Programm: Die insgesamt 16 erhaltenen Felder lassen sich auf drei Gruppen
verteilen:
1. Die neun Rechteckfelder mit Szenen aus dem Leben Christi stellen den Rest eines umfangreicheren Vita-Christi-
Zyklus dar. Für die weitergehenden Überlegungen zur Rekonstruktion des Bildprogramms wäre zunächst die Frage
des ursprünglichen Standorts zu klären, doch ist die Sachlage hier nicht eindeutig: Den Medaillons wurde von Szene
zu Szene ein blau-roter Farbwechsel unterlegt, der sich sowohl in einem zwei- als auch in einem dreibahnigen Fenster,
jeweils unter der Annahme geringerer oder größerer Lücken auflösen ließe. Die Scheiben befanden sich seit dem frü-
hen 19. Jahrhundert nachweislich im dreibahnigen und neunzeiligen Achsenfenster des Chores (vgl. Fig. 52). Gegen
das Achsenfenster als ursprünglichen Standort spricht sein Depotcharakter, denn offenbar in ihm zu einem früheren
Zeitpunkt Restbestände unterschiedlicher Herkunft zusammengeführt worden. Zwar führt Landau 1842 als Grund
für ihre Erhaltung an, dass dieses Fenster wohl durch einen barocken Hochaltar verdeckt gewesen sei, doch berichten
Dehn-Rotfelser/Lotz 1870 - wenn auch ohne Angabe von Quellen - von ihrer Herkunft aus den Querhausarmen,
deren Fenster durchgehend zweibahnig und sechszeilig angelegt sind. Zwar müssen weder bauhistorische noch iko-
nographische Argumente gegen diese Annahme sprechen: Die Bauarbeiten an Lang- und Querhaus dürften Ende
der dreißiger Jahre des 14. Jahrhunderts abgeschlossen gewesen sein, und auch die Aufnahme eines christologischen
Zyklus in das chorähnliche Querhaus steht dem nicht entgegen, da der neue Chor mit seinem Bildprogramm zum Zeit-
punkt der Querhausausstattung noch gar nicht errichtet war10. Dennoch lassen sich mehrere Gründe für die gängige
Lösung benennen, den Christuszyklus tatsächlich in das Achsenfenster hinter dem Hauptaltar zu lokalisieren. Eine
zeilenweise von unten nach oben fortlaufende Erzählfolge der Vita Christi über mehr als 20 Bilder ließe sich nicht nur
besser mit der ungewöhnlichen Szenenauswahl vereinbaren, sondern würde auch den kompletten Verlust der frühen
Christusvita in den unteren Zeilenlagen erklären11.
2. Mariologisches Fenster mit Propheten und Sibyllen. Die Schriftbänder erlauben die Identifizierung der beiden
gekrönten weiblichen Figuren als Personifikationen der Weisheit oder als Sybillen, im Mittelalter auch 'wille'weis
genannt12. Im mittelalterlichen Bilderkreis treten Sibyllen im mariologischen Kontext als Ankünder Christi oder im
Zusammenhang mit Darstellungen des Thron Salomonis auf13. Jene schriftliche Prophezeiung der sitzenden Sibylle,

5 Hierzu David-Sirocko 1997, S. 328-332.
6 Hamann/Wilhelm-Kästner 1924, S. 45-47. Entgegen der Annah-
me Wilhelm-Kästners hatte in Frankenberg nie eine regelmäßige
Dreikonchenanlage wie in Marburg bestanden. Bereits Schäfer 1910,
S. 71, vermutete zu Recht, dass der Chor des Vorgängerbaus zunächst
beibehalten und erst nach Fertigstellung des Langhauses, vielleicht so-
gar erst nach Vollendung des neuen Ostchors abgerissen wurde. Seine
Fundamente wurden zu Beginn der i98oer-Jahre ergraben. Vgl. hierzu
Reinhard Lambert Auer, Landesherrliche Architektur. Die Rezeption
der Elisabethkirche in den hessischen Pfarrkirchen, in: AK Marburg
1983,1, S. 103-123, bes. S. 103-106, 121, Anm. 4.
7 Balzer 1986 (s. Bibi.), S. 30, nach Aufzeichnungen im Pfarrarchiv
Frankenberg um 1728.
8 Balzer 1986 (s. Bibi.), S. 36.
9 Im Archiv der Pfarrei wird eine Fotodokumentation aufbewahrt,
die Auskunft über den Umfang der vorgenommenen Arbeiten gibt.
10 Mit der Fertigstellung dieser Bauteile im Jahr 1337 erfolgte auch
die Erneuerung der zahlreichen Altarplätze: St. Philippus und Jaco-
bus (1337), St. Barbara (1337), Kreuzaltar (1340), Conceptionis Mariae
(1340), St. Nikolaus (1340), St. Elisabeth (1340), St. Katharina (1334),
St. Simonis und Juda mit Johannes Evangelista und den Hll. Agnes,
Margareta und Dorothea (1343) Jakobus (1351) und St. Sebastian (1351).
Hierzu Adolf Rörig, Dreihundertvierzigjahre Geschichte der Kirche
Unserer lieben Frauen (der Pfarrkirche) zu Frankenberg in Hessen,
Marburg 1886, S. 13L, und Classen 1929, S. 329L
11 Das Achsenfenster war erstmals von Wille 1952,1,8. 108-110, als
ursprünglicher Standort vorgeschlagen worden. Wille hatte jedoch

unter Bezugnahme auf die bahnweise von unten nach oben verlaufen-
de Anordnung des Christuszyklus im Achsenfenster der Limburger
Wilhelmitenkirche für Frankenberg eine entsprechende, auf drei
Bahnen verteilte Erzählfolge von Wirken, Passion und Verklärung
Christi angenommen. Zusammen mit weiteren, anhand der Lücken zu
erschließenden Darstellungen rekonstruierte sie Stränge von je acht
Medaillons mit unterer Stifterzeile. Eine solche Anordnung der Felder
würde zu einer schachbrettartigen Verteilung der Farbgründe führen,
die dem Prinzip des Farbwechsels zuwiderliefe. Wille musste hier-
für außerdem einen vollständigen Verlust der Vitaszenen in der linken
Bahn annehmen, was sehr unwahrscheinlich ist. Im Falle der hier vor-
geschlagenen dreibahnigen zeilenweisen Anordnung mit blau hinter-
legten Medaillons in der Mittellanzette wären vor allem zwischen Auf-
erstehung und Christus als Gärtner zwei weitere Szenen (etwa Chris-
tus im Limbus und die Frauen am Grabe) unterzubringen, ebenso eine
weitere zwischen Aussendung der Jünger und Himmelfahrt.
12 Wille 1952, I, S. 117L, II, S. 113L, vermutete in den beiden weib-
lichen Gestalten die alttestamentlichen Personifikationen von Weisheit
und Torheit, wie sie in den Sprüchen Salomos (Prv 9,4 und 16) vor-
kommen. Erst Balzer 1983 (s. Bibi.) hat die weiblichen Figuren mit
antiken Sibyllen identifiziert.
D Vgl. die den Thron flankierenden Propheten und Sibyllen am Wor-
melner Retabel, heute Berlin, Staatliche Museen zu Berlin - Preußi-
scher Kulturbesitz, Gemäldegalerie, Inv. Nr. 1844, das um 1370/80
möglicherweise in einer niedersächsischen Werkstatt atisgeführt wur-
de; hierzu zuletzt Gast 2005, S. 427-432.
 
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