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HERSFELD • STADTKIRCHE
Marienkapelle tätige Werkstatt ab); Uwe Gast, Die Chorverglasung der Stadtkirche in Friedberg im 14. und 15. Jahr-
hundert. Rekonstruktion, Programm und programmatische Änderungen, in: Die gebrauchte Kirche (Arbeitshefte
des Landesamtes für Denkmalpflege Hessen), Stuttgart 2009 (der Erstverglasung des Friedberger Chores liegt ein
vergleichbares Ausstattungskonzept wie in Hersfeld zugrunde).
Gegenwärtiger Bestand: Von seiner einst reichen Farbverglasung hat der Kirchenbau selbst nur mehr geringe Reste
bewahrt. In den Maßwerken von vier Chorfenstern befinden sich noch zwölf alte Scheiben (Fig. 189-192, Abb. 116-
121). Die durch Flickungen verstümmelten Reste von fünf figürlichen und vier architektonischen Feldern sind in den
Sakristeifenstern eingesetzt (Fig. 203, 209, 218-224, Abb. 127-13$). Nach dem Kirchenbrand von 1932 wurden acht-
zehn Maßwerkfüllungen und Ornamentfragmente in die Fenster der Vitaliskapelle transferiert und unter Zugrunde-
legung einiger Felder aus dem Chor zwei Teppichmuster rekonstruktiv ergänzt (Fig. 185—187, 193-202, 225-227, Abb.
122-126). Bedeutender und weitaus besser erhalten sind die dreizehn figürlichen und zehn architektonischen, heute
auf Schloss Wilhelmshöhe in Kassel befindlichen Rechteckfelder (Fig. 207L, 210, 213-215, 217, 228-253, Abb. 136-161).
Mit der Neugestaltung des Kircheninnern nach dem Brand wurden vier Fragmente dem Städtischen Museum in Bad
Hersfeld überwiesen (Fig. 204E). Schließlich gelangte ein Fragmentstück an das Marburger Universitätsmuseum (Abb.
162). Weitere 45, damals untergegangene Glasmalereien sind in den Kriegsbergungsaufnahmen dokumentiert; sie wer-
den, da sie für die Rekonstruktion der Fensterverglasung wichtige Aufschlüsse enthalten, gesondert im Anhang be-
handelt (Fig. 254-286).
Geschichte des Baues: Der kurz nach 1300 begonnene Neubau der Stadtkirche St. Vitus und Antonius fällt in eine
Zeit, in welcher sich die Stände der aufstrebenden Handelsstadt aus der Vormundschaft des mächtigen Abtes des Hers-
felder Benediktinerklosters befreit und das städtische Regiment übernommen hatten1. Am Bau und seiner Ausstattung
hatten die Korporationen einen maßgeblichen Anteil; er ist daher auch Ausdruck des erstarkenden Selbstbewusstseins
der Bürger gegenüber dem mächtigen Stift. In einem bei Piderit erwähnten, heute nicht mehr auffindbaren Gna-
denbrief des Papstes Johannes XXII. aus dem Jahr 1323 wird ausdrücklich der Einweihung gedacht, die sich auf die
Vollendung des Chors beziehen muss2. Danach wird zügig am Langhaus weitergebaut, zunächst noch unter Nutzung
romanischer Teile. Nach der Mitte des 14. Jahrhunderts war das Kircheninnere vollendet. Gleichzeitig erfolgte im
Westen zwischen Turm und Langhaus der Anbau der Vitaliskapelle über dem B einhaus3. Am Turm wurde in mehreren
Etappen vom 14. bis ins späte 16. Jahrhundert gebaut. Soweit dies nicht schon mit der Einführung der Reformation
geschehen war, waren vom Bildersturm, den Landgraf Moritz im Dezember 1608 initiierte, vor allem die noch vorhan-
denen Tafelbilder und die skulptierte Ausstattung betroffen4. Im Jahr 1760 rief eine Kollekte zur Wiederherstellung
des durch einen Blitzschlag abgebrannten Turms sowie zur Renovierung des baufälligen Chores auf. Seit 1897 wurde
das Innere einer umfassenden neogotischen Umgestaltung unterzogen. Ein verheerender Kirchenbrand zerstörte im
Jahr 1952 die beiden westlichen Gewölbejoche mitsamt den figural ausgearbeiteten Schlusssteinen sowie den Großteil
der bis dahin noch erhaltenen mittelalterlichen Glasmalereien. Bei der Innenrenovierung von 1986 wurde die Farbfas-
sung des Raumes nach alten Befunden rekonstruiert.
Das über einem romanischen Vorgängerbau errichtete Gebäude besitzt ein dreischiffiges Hallenlanghaus und einen
eingezogenen zweiwöchigen Chor mit 5/8-Schluss (Fig. 181L). Nach dem Vorbild der Marburger Marienkirche (Chor-
1 Grabungen weisen auf einen möglicherweise in das 10. Jh. zurück-
reichenden Vorgängerbau hin. Diese Saalkirche wurde später um ei-
nen größeren Chor und ein ausladendes Querhaus erweitert, das noch
einen Teil des heutigen Ostabschlusses des Langhauses bildet. Hier-
zu Hans Feldtkeller, Bericht über eine Grabung in der Hersfelder
Stadtkirche, in: Kunstchronik 7, 1954, S. 149-151. Die Grabungen be-
stätigten die Untersuchung von Hörle 1949 (s. Bibi.), die neuerdings
in einer kritisch überarbeiteten Neuausgabe von 1990 vorliegt. Auf sie
greift auch die jüngste Denkmaltopographie zurück: Thomas Wie-
gand, Kunstdenkmäler in Hessen. Landkreis Hersfeld-Rotenburg III:
Stadt Bad Hersfeld, hrsg. vom Landesamt für Denkmalpflege Hessen,
Braunschweig/Wiesbaden 1999, S. 153-158. Eine wissenschaftlich fun-
dierte Untersuchung des Kirchenbaus steht noch aus.
2 Piderit 1829 (s. Bibi.), S. 83L, Anm. 33.
3 Der Titel einer Vikarie des 15. Jh. für diese Kapelle lautet S. Vita-
lis super ossario. Vgl. Philipp Hafner, Die kirchlichen Verhältnisse
der Stadt Hersfeld vor der Reformation, in: Mein Heimatland 1927/28,
S. 130-149, hier S. 139L Die beiden im Nordseitenschiff an der Ost-
und Westwand befindlichen zweibahnigen Fenster zeigen die gleichen
Maßwerkformen wie das Kapellenfensternord II. Die Kapelle soll über
400 Jahre unverglast, zuletzt lediglich mit einem Holzverschlag vor
Witterung geschützt gewesen sein. Bad Hersfeld, PfA, Akte Wieder-
herstellung der Stadtkirche nach dem Brand von 1952. Betr. Erneue-
rung der zerstörten Fenster. Stadtbauamt an Glasmaler Bamberger
vom 26. Mai 1952.
4 Hierzu ausführlich Kümmel 1996, S. 46-52.
HERSFELD • STADTKIRCHE
Marienkapelle tätige Werkstatt ab); Uwe Gast, Die Chorverglasung der Stadtkirche in Friedberg im 14. und 15. Jahr-
hundert. Rekonstruktion, Programm und programmatische Änderungen, in: Die gebrauchte Kirche (Arbeitshefte
des Landesamtes für Denkmalpflege Hessen), Stuttgart 2009 (der Erstverglasung des Friedberger Chores liegt ein
vergleichbares Ausstattungskonzept wie in Hersfeld zugrunde).
Gegenwärtiger Bestand: Von seiner einst reichen Farbverglasung hat der Kirchenbau selbst nur mehr geringe Reste
bewahrt. In den Maßwerken von vier Chorfenstern befinden sich noch zwölf alte Scheiben (Fig. 189-192, Abb. 116-
121). Die durch Flickungen verstümmelten Reste von fünf figürlichen und vier architektonischen Feldern sind in den
Sakristeifenstern eingesetzt (Fig. 203, 209, 218-224, Abb. 127-13$). Nach dem Kirchenbrand von 1932 wurden acht-
zehn Maßwerkfüllungen und Ornamentfragmente in die Fenster der Vitaliskapelle transferiert und unter Zugrunde-
legung einiger Felder aus dem Chor zwei Teppichmuster rekonstruktiv ergänzt (Fig. 185—187, 193-202, 225-227, Abb.
122-126). Bedeutender und weitaus besser erhalten sind die dreizehn figürlichen und zehn architektonischen, heute
auf Schloss Wilhelmshöhe in Kassel befindlichen Rechteckfelder (Fig. 207L, 210, 213-215, 217, 228-253, Abb. 136-161).
Mit der Neugestaltung des Kircheninnern nach dem Brand wurden vier Fragmente dem Städtischen Museum in Bad
Hersfeld überwiesen (Fig. 204E). Schließlich gelangte ein Fragmentstück an das Marburger Universitätsmuseum (Abb.
162). Weitere 45, damals untergegangene Glasmalereien sind in den Kriegsbergungsaufnahmen dokumentiert; sie wer-
den, da sie für die Rekonstruktion der Fensterverglasung wichtige Aufschlüsse enthalten, gesondert im Anhang be-
handelt (Fig. 254-286).
Geschichte des Baues: Der kurz nach 1300 begonnene Neubau der Stadtkirche St. Vitus und Antonius fällt in eine
Zeit, in welcher sich die Stände der aufstrebenden Handelsstadt aus der Vormundschaft des mächtigen Abtes des Hers-
felder Benediktinerklosters befreit und das städtische Regiment übernommen hatten1. Am Bau und seiner Ausstattung
hatten die Korporationen einen maßgeblichen Anteil; er ist daher auch Ausdruck des erstarkenden Selbstbewusstseins
der Bürger gegenüber dem mächtigen Stift. In einem bei Piderit erwähnten, heute nicht mehr auffindbaren Gna-
denbrief des Papstes Johannes XXII. aus dem Jahr 1323 wird ausdrücklich der Einweihung gedacht, die sich auf die
Vollendung des Chors beziehen muss2. Danach wird zügig am Langhaus weitergebaut, zunächst noch unter Nutzung
romanischer Teile. Nach der Mitte des 14. Jahrhunderts war das Kircheninnere vollendet. Gleichzeitig erfolgte im
Westen zwischen Turm und Langhaus der Anbau der Vitaliskapelle über dem B einhaus3. Am Turm wurde in mehreren
Etappen vom 14. bis ins späte 16. Jahrhundert gebaut. Soweit dies nicht schon mit der Einführung der Reformation
geschehen war, waren vom Bildersturm, den Landgraf Moritz im Dezember 1608 initiierte, vor allem die noch vorhan-
denen Tafelbilder und die skulptierte Ausstattung betroffen4. Im Jahr 1760 rief eine Kollekte zur Wiederherstellung
des durch einen Blitzschlag abgebrannten Turms sowie zur Renovierung des baufälligen Chores auf. Seit 1897 wurde
das Innere einer umfassenden neogotischen Umgestaltung unterzogen. Ein verheerender Kirchenbrand zerstörte im
Jahr 1952 die beiden westlichen Gewölbejoche mitsamt den figural ausgearbeiteten Schlusssteinen sowie den Großteil
der bis dahin noch erhaltenen mittelalterlichen Glasmalereien. Bei der Innenrenovierung von 1986 wurde die Farbfas-
sung des Raumes nach alten Befunden rekonstruiert.
Das über einem romanischen Vorgängerbau errichtete Gebäude besitzt ein dreischiffiges Hallenlanghaus und einen
eingezogenen zweiwöchigen Chor mit 5/8-Schluss (Fig. 181L). Nach dem Vorbild der Marburger Marienkirche (Chor-
1 Grabungen weisen auf einen möglicherweise in das 10. Jh. zurück-
reichenden Vorgängerbau hin. Diese Saalkirche wurde später um ei-
nen größeren Chor und ein ausladendes Querhaus erweitert, das noch
einen Teil des heutigen Ostabschlusses des Langhauses bildet. Hier-
zu Hans Feldtkeller, Bericht über eine Grabung in der Hersfelder
Stadtkirche, in: Kunstchronik 7, 1954, S. 149-151. Die Grabungen be-
stätigten die Untersuchung von Hörle 1949 (s. Bibi.), die neuerdings
in einer kritisch überarbeiteten Neuausgabe von 1990 vorliegt. Auf sie
greift auch die jüngste Denkmaltopographie zurück: Thomas Wie-
gand, Kunstdenkmäler in Hessen. Landkreis Hersfeld-Rotenburg III:
Stadt Bad Hersfeld, hrsg. vom Landesamt für Denkmalpflege Hessen,
Braunschweig/Wiesbaden 1999, S. 153-158. Eine wissenschaftlich fun-
dierte Untersuchung des Kirchenbaus steht noch aus.
2 Piderit 1829 (s. Bibi.), S. 83L, Anm. 33.
3 Der Titel einer Vikarie des 15. Jh. für diese Kapelle lautet S. Vita-
lis super ossario. Vgl. Philipp Hafner, Die kirchlichen Verhältnisse
der Stadt Hersfeld vor der Reformation, in: Mein Heimatland 1927/28,
S. 130-149, hier S. 139L Die beiden im Nordseitenschiff an der Ost-
und Westwand befindlichen zweibahnigen Fenster zeigen die gleichen
Maßwerkformen wie das Kapellenfensternord II. Die Kapelle soll über
400 Jahre unverglast, zuletzt lediglich mit einem Holzverschlag vor
Witterung geschützt gewesen sein. Bad Hersfeld, PfA, Akte Wieder-
herstellung der Stadtkirche nach dem Brand von 1952. Betr. Erneue-
rung der zerstörten Fenster. Stadtbauamt an Glasmaler Bamberger
vom 26. Mai 1952.
4 Hierzu ausführlich Kümmel 1996, S. 46-52.