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Parello, Daniel; Hess, Daniel
Die mittelalterlichen Glasmalereien in Marburg und Nordhessen — Corpus vitrearum medii aevi - Deutschland, Band 3,3: Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.52865#0255

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IMMENHAUSEN • STADTKIRCHE

254
1. DIE EHEMALIGE FÄRB VERGLASUNG DES LANGHAUSES
Erhaltung: Der weitaus größere Teil der Langhausverglasung wird heute auf der Löwenburg in Kassel-Wilhelms-
höhe auf bewahrt. Durch die Bombardierung der Löwenburg im Zweiten Weltkrieg ist der Bestand offenbar kaum in
Mitleidenschaft gezogen worden. Bedeutend schwerer wiegen dagegen die Wiederherstellungsmaßnahmen der Brüder
Ely, die in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die ursprünglich aus zwei Einzelfeldern bestehenden Stand-
figuren zusammengebleit und darüber hinaus umfassende Ergänzungen vorgenommen haben9. Heute sind nur mehr
etwa 40% der Gläser originaler Bestand, die breiten Randstreifen gehören nicht dazu. Bedauerlicherweise sind die
Köpfe damals vielfach erneuert oder, sofern original, nachkonturiert worden. Auf den weißen Gläsern haftet die
eingebrannte Zeichnung offenbar besonders schlecht. Eine flächige Korrosionsschicht, die an einigen Stellen bereits
schollenartig ausbricht, überzieht vor allem die violetten, blauen, kaltgrünen und gelben Farbgläser. Starke Kratz-
spuren an den besonders witterungsanfälligen und stumpf gewordenen violetten Gläsern weisen auf mechanische
Reinigungsversuche hin; die auf diese Weise verletzte Oberfläche wurde dadurch für weitergehende Korrosion auf-
geschlossen. Störend auf das Erscheinungsbild wirkt sich auch die Neuverbleiung aus, da hierfür Blei mit zu breiten
Schenkeln benutzt wurde.
Rekonstruktion, ikonographisches Programm: Sechs Felder mit Heiligenstandfiguren - vier Apostel und zwei
Mariendarstellungen, die offenbar bereits am Ende des 18. Jahrhunderts für die Wilhelmshöhe erworben worden
waren - stammen aus dem Langhaus der Immenhausener Stadtkirche. Die Fenstermaße lassen dort allerdings auf
Feldergrößen von circa 55x50 Zentimeter schließen, welche mit den weitaus größeren Rechteckfeldern auf der Löwen-
burg nicht übereinstimmen. Bei der Restaurierung im 19. Jahrhundert hat man jedoch die ursprünglich aus zwei nahe-
zu quadratischen Feldern bestehenden Figuren zusammengebleit und mit einem neuen Ornamentstreifen versehen.
Dieses auch für andere Glasmalereien der Löwenburg nachgewiesene Verfahren wurde offenbar angewandt, um die als
störend empfundene Figurenteilung aufzuheben10. Hieraus lassen sich nun die ursprünglichen Feldergrößen erschlie-
ßen, die den Rahmenmaßen in Immenhausen exakt entsprechen. Umfang und Verteilung der Standfiguren bleiben
jedoch spekulativ. Die sechs Maßwerkfenster der Langhausseiten, fünf zweibahnige und ein dreibahniges Fenster
über dem Nordportal, böten theoretisch Raum für einen Figurenzyklus aus dreizehn in einer Reihe angeordneten
und paarweise einander zugewandten Standfiguren. Legt man eine solche Anordnung zugrunde, könnten diese wie
etwa die kompositorisch vergleichbaren Fenster der Lübecker Katharinenkirche, heute St. Annen-Museum, in einer
architektonischen Rahmenkonstruktion mit Sockel- oder Stifterzeile und einer partiellen, in eine Blankverglasung
auslaufenden Baldachinbekrönung eingebettet gewesen sein11. An ausgezeichneter Stelle im einzigen dreibahnigen
Fenster ließe sich demnach auch jene durch die ältesten Altarpatrozinien belegte Gruppe der beiden Apostelväter
Petrus und Paulus zuseiten Marias mit Kind im blau-roten Farbwechsel annehmen12. Aber nicht nur der Rest einer
Verkündigung, auch ein Flickstück im Spruchnimbus des Apostels Paulus liefert einen Hinweis darauf, dass das Fi-
gurenprogramm nicht auf ein Apostelkollegium mit Maria beschränkt gewesen sein dürfte; jenes Fragment ist wohl
mit einer verlorenen Darstellung des Hl. Patroklus zu verbinden13. In die gleiche Richtung weisen übrigens auch die
Inschriftenformeln: Die bei sämtlichen Figuren gleichlautenden Bittsprüche setzen sich immer aus der Anrufung des
jeweils Dargestellten und der Pluralform der Bitte zusammen (prate pro me), die also stets die Gemeinschaft der Heili-
gen mit einbezieht. Neben diesem Allerheiligenprogramm muss noch ein mariologischer Zyklus bestanden haben, da

9 Nahezu alle bemalten und nicht die Inkarnatstücke betreffenden
Ergänzungen wurden von den Restauratoren innenseitig mit einem
Buchstaben markiert.
10 Auf gleiche Weise hat man auch die Turmarchitekturen der Hers-
felder Stadtkirche in der Löwenburgkapelle zusammengefügt.
11 Johannes Baltzer, Die Bau- und Kunstdenkmäler der Freien Han-
sestadt Lübeck, IV, Lübeck 1928, S. 87-91; AK Kirchliche Kunst des
Mittelalters und der Reformationszeit, bearbeitet von Jürgen Witt-
stock, St. Annen-Museum Lübeck, Lübeck 1981, S. 51-53.
12 Unter den sieben, bereits 1391 genannten Altarpatrozinien werden
zunächst Maria und die beiden Apostelväter genannt. Es folgen die
Altäre der Hll. Katharina, Barbara, Dorothea und Elisabeth. Ein Re-

gister von 1464 erwähnt noch drei Altäre mit den Patrozinien Petrus,
Paulus und Allerheiligen. Hierzu Baas 1966 (s. Bibi.), S. 15.
D Das Fragment mit der Namensendung >clus< verweist am ehesten
auf den im westfälischen Raum besonders verehrten Hl. Patroklus,
dessen Gebeine in Soest ruhen.
14 Der Stern ist ein Jungfräulichkeitssymbol Marias und tritt ver-
mehrt im Zusammenhang mit der unbefleckten Empfängnis auf. Die
Bezeichnung Marias als Stella maris leitet sich wohl aus der Erwäh-
nung im Hohelied Salomos her; hierzu Stephan Beissel, Geschichte
der Verehrung Marias in Deutschland, Freiburg 1909, S. 126k, sowie
LCI, IV, 1972, Sp. 214!.
 
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