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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

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Heft 19 (1. Juliheft 1917)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0045

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Kreund, den einfühlsarnen Lrklarer.
Beide zusanrrnen erleben in einer
bunten Fülle von Ereignissen das
moderne Frankreich der Zeit vor
dem Kriege, beide ergehen sich
gesprächweise oder nachdenkend in
ausführlichen Arteilen über das
Land. Rolland bringt zunächst Io-
hann Christoph allein auf die
Bühne, und zwar nntten hinein
in das Pariser Literaten-, Poli«
tiker-, Musiker-, Kokotten- und Ge-
schäftlertum aller Art. Selten wird
man Schilderungen von so herber
Erbitterung, so rücksichtloser Schärfe
und Offenheit lesen. Fäulnis, Laster,
ekelhafte Viertelkultur — das sind
noch nicht die rechten Worte für
das, was Rolland zunächst zeigt;
der Eindruck, den sein Bild dieser
„maßgebenden" Kreise hervorruft,
liegt mehr in der Richtung einer
absterbenden, in einem letzten lu-
xuriösen Besitz- und Gierpöbeltum
dem Untergang zueilenden Gesell-
schaft. Weitaus bitterer und leiden-
schaftlicher kritisiert Rolland dieses
Paris, als er im ersten Bande des
Gesamtwerkes Deutschland kritisiert
hat.

Danach wechselt der Schauplatz.
Rolland führt den Leser in die
französische Provinz, in die Fami-
lie Ieannin. Kleine Genrebildchen
und menschlich liebenswerte Fami-
lienauftritte lösen einander ab, ein
etwas unmoderner, ruhiger, allem
Weltstädtisch-Weltpolitisch^Weltläufi
gen fremder sozialer und seelische
Bezirk tut sich auf, in welchem de
zarte Olivier aus begreiflicher Ra
turnotwendigkeit zu einem abseiti-
gen, überfeinfühligen, willensschwa-
chen, intellektstarken Iüngling heran-
reift. Vater Ieannin ruiniert sich
indes, und Olivier geht mit Mutter
und Schwester nach Paris. Bald
stirbt die Mutter, und es ist an der
Schwester, sich durch Stundengeben
und Lohnarbeit für Olivier aufzu-
opfern. Auch sie erliegt, er aber

findet den Weg zu einem sorgen»
reichen, jedoch ertraglichen Dasein.
Und er findet sich in reich frucht-
tragender, Herzerschließender, tiefst-
gefühlter Freundschaft zusammen mit
Iohann Christoph, der nun wieder die
Bühne betritt. Durch Olivier lernt
Iohann Christoph, daß sein Pariser
Kreis nicht Frankreich ist, daß er
von Frankreich noch gar nichts weiß;
durch ihn lernt er die Seele des
wahren Frankreichs kennen, dessen
Kind Olivier ist und das Olivier
dem Freund nun in hundert Ge-
sprächen, an hundert Beispielen zeigt.
Iohann Christoph bleibt der Kriti-
ker, Olivier selbst sieht alle Schwä-
chen, aber auch die innere Schön-
heit und Größe seines Volkes, und
sein deutscher Freund dringt durch
ihn tiefer ein in das, was Olivier
offenbaren kann, als wohl ein Be-
sucher sonst je eindringen könnte.

Es ist ein begreifliches und an-
ziehendes Verfahren, das Rolland
so einschlagt: erst Arger, Verbitte-
rung, Sorge vom tzerzen herunter-
zusprechen, dann in Andacht das
Liebenswerte, Bleibende, Ewig-
Schöne Herausstellen, in Andacht,
nicht ohne Mäßigung. Vergleicht
man seinen Versuch, Deutschland zu
schildern (im ersten Band), mit die-
sem Versuch, Frankreich darzustel-
len, so ergibt sich leicht, daß jener
bei weitem oberflächlicher ausge-
fallen ist. Dort einige menschliche
Typen, wesentlich aus einer west-
deutschen Mittelstadt entnommen,
. feinfühlig angesehen, aber nicht aus
ihrer tiefsten Tiefe erfühlt, dafür
breit ausgemalt, das Bild und
der angedeutete Gesamtrahmen nicht
ohne schiefe Züge, hier ein sorg-
samer Aufbau verschiedner Teil-
welten, zahlreiche, scharf und ge-
nau umrissene Einzelbilder, mehrere
menschliche Typen mit innigster An-
teilnahme bis ins Letzte ausge-
staltet. Dort Beobachtung, unzwei-
felhaft feine, für einen Romanen

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