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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

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Heft 19 (1. Juliheft 1917)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0060

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frage mich, ob ich nicht vielleicht
gehe und taurnle, denn mir ist, als
wär' ich ohne Gleichgewicht. Die
Sonne, ein Geruch aus dem Wald,
— alles bedeutet eine Verwundung,
und ich gehe immer langsamer und
schwerer, gehe von meiner eigenen
Seele niedergezogen, die diesen Ver-
wundungen erliegen will.

Ich erinnere mich, daß in meiner
Kindheit alles dieses ein Glück war.
Ich liebte es, allein zu sein. Ich
suchte die Abgeschiedenheit auf. Zu-
weilen bin ich sehr früh am Morgen
aufgestanden, weil man den ganz
jungen Tag scheinbar mehr als
irgendeine Zeit für sich allein hat.
Lr kann eine unvergleichliche und
inbrünstige Freude am Alleinsein
geben.

Ab und zu begegnen mir Men-
schen im Tal oder auf einem Wald-
weg. Ich komme in irgendeine
Nähe oder Aufmerksamkeit zu
ihnen. Mein Einsamkeitsgefühl
macht, daß ich schärfer aufhorche
und empfänglicher gegen jeden Le-
bensausdruck geworden bin. Ich be-
achte, was ich sonst und in Be-
gleitung nicht sehen würde. Ich
nehme auf, wie vielleicht die Tiere
des Waldes Begegnungen mit
ihresgleichen aufnehmen — anders,
wachsamer als sonst, gleichsam
außerhalb den Einschläfrungen von
Kultur und Gewohnheit.

Es gibt Stellen im Wald, die
ganz einsam sind. Gar nicht, als
ob vielleicht in Wirklichkeit nie ein
Mensch dorthin käme — aber sie
tragen ein seltenes und besonderes
Gepräge der Einsamkeit. Sie haben
etwas Selbständiges und Auberühr«
tes an sich, und sie reden in aller--
hand tönenden Sprachen.

Dort bleibe ich für eine Ruhe-
zeit. Ich lege mich auf den Wald-
boden, und der Waldboden knistert,
und die Berührung meines Kör-
pers mit dem Gras oder der Erde
hat ihren eigenen Ton. In der

Nähe fallen abgewelkte Deckblätter
oder vorjährige Tannennadeln, ein
Vogel ruft laut und unbefangen,
kleine Käfer und Raupen steigen an
den Grashalmen des steifen, starren
tzaldengrases hinauf, bis die zu
schaukeln beginnen. Wenn ich atme,
dann ist mein Hauch ein Teil dieses
ganzen Lebens. Meine Gedanken
fangen an sich freizumachen, das
heißt: sie entfernen sich von meiner
Körperlichkeit und gewinnen ein
seltsames Eigengewicht — so: nicht
mehr ganz zu mir gehörig. Nur
der Atem, die Wärme meines Lei-
bes, die Bewegungen meiner Glie-
der bleiben bei mir, oder doch: mir
nahe. Ia, oft nur nahe, wie ein
Losgelöstes, aber doch zur größten
Nähe Gefesseltes.

Zuweilen kommt dann eine selt-
same Narrheit, ein Rauschgefühl
über mich. Es ist das Bewußtsein
von der Vielheit und Einheit
der Atome — der Verlust aller
Komplexbegriffe. Es gibt nicht
mehr den Komplex Wald, nicht den
Komplex Ich, nicht den Komplex
Natur oder Welt. Ich kenne nur
die Vielheiten meines Atmens,
eines Windhauchs, eines Naschelns
im dürren Laub — und dann die
ganz große Einheit, die all diese
Vielheiten verbindet, die einzige
Einheit: Leben.

Nicht leicht, nicht schwer ist mein
tzerz — mein tzerz ist aus der Brust
gerissen, klopft den Atomen nach.
Ich suche nicht mehr Einheiten und
Bewandnisse, suche nicht mehr zu
erhaschen und zu charakterisieren —
alles ist wie durch sich selbst ent-
schleiert, als ob einem plötzlich die
Augen vor der Wesenheit der Farbe
oder der Kühle oder sonstigem An-
mittelbarem an sich geöffnet wären.

Das Rauschgefühl wächst an. Es
ähnelt den verwirrten und doch so
hellseherischen Momenten der Liebe.
Es ist Pans Erotik, die aus dem
Boden der Erde steigt. Unendliche
 
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