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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

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Heft 21 (1. Augustheft 1917)
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Hartwig, Ernst: Nähern wir uns dem Sozialismus?: zu einem inneren Kriegsergebnis
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https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0137

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die Sozialdemokratie war bisher »offiziell« eingeschworen auf den Grund»
satz, die Produktionsmittel müßten in die Hände der Gesamtheit übergehen,
welche dann jedem das Seine zuteilen werde. Haben wir uns nun diesem
Ideal genähert? Doch wohl nicht. Wir hatten im Frieden überall Privat-
eigentum und freie Verkehrswirtschaft — haben wir jetzt Gemeineigentum
und Gemeinwirtschaft? Unsere Organisationen laufen meist hinaus auf
Regelung des Verbrauchs, die Erzeugung wirtschaftlicher Güter aber
überlassen „wir", überläßt der Staat immer noch zumeist der Privatinitia--
tive. Er sorgt dafür, daß jeder gewisse Mindestmengen irgendeines wirt»
schaftlichen Erzeugnisses — Brot, Fleisch, Fett, Seife, Wolle-usw. — erhält-
aber der Staat erzeugt keines davon selbst. Der Staat regelt jetzt auch die
Preise dieser und anderer Güter, und er sucht auch die Menge dessen,
was von einzelnen Gütern erzeugt wird, zu ordnen, sei es eben durch Preis-
regelung, sei es durch Regelung des Arbeitaufwandes oder durch andere
Maßnahmen. Aber er erzeugt nicht selbst, er enteignet niemand — und
darauf kommt es an. Alle diese Maßnahmen haben zwar die höchste soziale
Bedeutung, sie sind „sozial" und nicht „individualistisch^ gedacht, sie sind
sozialpolitischer, aber sie sind nicht im marxistischen Sinne „sozialistischer"
Natur. Denn die bloße Verteilung der Erzeugnisse ohne Vergesellschaft-
lichung der Produktionsmittel erfüllt die Forderungen des Marxismus
nicht. Rnd der Einfluß des Staats auf die Erzeugung ist etwas anderes
als diese Vergesellschaftlichung. Man kann vielmehr überall beobachten,
daß auf Llemente der privatwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung die größte
Rücksichtnahme stattfindet. Ein Lrzeugungszwang wird fast überall ver-
mieden, jedenfalls auf den wichtigsten Gebieten, gerade ein solcher aber
hätte schon viel eher sozialistischen Charakter als die Regelung des Ver-
brauchs. Gar von Enteignungen und von schweren Eingriffen in die
Erzeugertätigkeit hört man wenig. Dagegen hört man viel von „Schonung"
privatwirtschaftlicher Interessen und Betriebe, welche innerhalb der sozia-
listischen Wirtschaftsordnung vielleicht gar nicht oder in anderer Art vor-
handen wären, etwa der Kleinhändler, Bäcker, Gastwirte, Zwischenhändler
aller Art und vor allem der Erzeuger. Diese Schonung legt den Nur-
Verbrauchern so manche Anannehmlichkeit auf. Ein Beispiel für viele:
der Erzeuger bekommt von seinem Erzeugnis höhere Rationen als der
Verbraucher. Warum? Weil man privatwirtschaftlich denkt, weil man es
als eine Art notwendigen „Anrechts" empfindet, daß ihm überhaupt etwas
wider seinen Willen weggenommen wird, als ein Unrecht, für das ihm eine
Entschädigung in Form höherer Ration zusteht. Man empfindet eben ihn
und nicht die Gesamtheit als Eigentümer der Produktionsmittel und der
Produkte und neigt dazu, dieses Privateigentum als dreimal heilig zu
achten? — Wer die Augen offen hält, wird solche Anzeichen überall noch
vorherrschender privatwirtschaftlicher Gesinnung zu Tausenden von Malen
Woche für Woche finden. ^

Zum Sozialismus als dem Inbegriff des Ideengehalts der Sozial-
demokratie gehört nun aber noch mehr als die marxistische Vorstellung
von der zukünftigen Wirtschaftsform. Vor allem ein leidenschaftlicher Wille,
andere politische Zustände herbeizuführen, als bisher herrschten. Kom-
men wir etwa diesen politischen Zuständen durch die Kriegswirtschaftsord-
nung näher? Wiederum muß die Antwort lauten: doch wohl kaum!

^ Absichtlich gehe ich auf nebenherlaufende Beweggründe für die Höher-
rationierung (Schwerarbeiterzulage, Anreizmittel) hier nicht ein.
 
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