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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

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Heft 21 (1. Augustheft 1917)
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Hartwig, Ernst: Nähern wir uns dem Sozialismus?: zu einem inneren Kriegsergebnis
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https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0138

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Es sind sogar Züge in der heutigen Lebensordnung, in der Kriegswirt»
schaftsordnnng enthalten, welche dem sozialistischen Gedanken eher wider»
sprechen als entsprechen. Mle die einschneidenden wirtschaftspolitischen
Maßnahmen, die dem Verbraucher zu Bewußtsein kommen, rühren her von
der Regierung. Ihre Durchführung geschieht mit den Mitteln und in den
hergebrachten gesellschaftlich-politischen Formen des Obrigkeitstaates.
Die Mitverantwortlichkeit des Volkes an ihnen ist gering, die Kritik an
ihnen von seiten des Volkes um so größer. Politisch^soziologisch bedeutet
diese ganze Regelung eine Art Linüben obrigkeitstaatlicher Verfahrens«
weisen und eine Einstellung der Verbraucher auf solche. Bedenken alle,
die heute für die neuen Zustände wegen ihres sozialistischen Eharakters
schwärmen, diese Seite der so plötzlich eingeführten Wirtschaftsordnung?

G

Will man durchaus an den heutigen Zuständen im Wirtschaftsleben
„sozialistische" Züge feststellen, so muß man sich erinnern, daß das ganz
allgemeine Wort Sozialismus außer dem Ideengehalt und der Politik
der Sozialdemokratie noch mancherlei anderes in sich schließt; so nennt
man z. B. eine gewisse Wirtschaftsordnung „staatssozialistisch". Rnd dem
„Staatssozialismus" nähern wir uns allerdings mehr und mehr. Zwar
nicht dem „absoluten Staatssozialismus", als welcher die Produktions-
mittel dem Privatbesitz zugunsten des Staates entziehen würde, wohl aber
einem „relativen Staatssozialismus",* einem Wirtschaftzustand, der von
keiner Partei bisher vertreten wurde, auch von keiner wissenschaftlichen
Gruppe bisher genau bis ins einzelne ideell festgelegt wurde, einem Zu-
stand, der sich von dem marxistisch-sozialdemokratischen Idealzustand so tief
unterscheidet, daß man ihn in gewisser tzinsicht als seinen ausgesprochenen
Gegensatz auffassen kann. Ob man nun durch die Kriegswirtschaft auch nur
mit diesem „relativen Staatssozialismus" gültige, dauernde Erfahrungen
macht, ob das Kriegswirtschaftsexperiment eine bedeutsame Generalprobe
auch nur für diesen relativen Staatssozialismus bedeutet und dem Ideal
eines solchen also Vorschub leistet — selbst das kann man bezweifeln.
Aber das Wesen eines sozialen Experimentes sagt G. F. Steffen einmal:

„Ein auf experimentalem Wege erzeugtes Sozialverhältnis größeren
Umfanges würde nicht die normale soziale Wirklichkeit repräsentieren, wenn
die Faktoren des normalen Gesellschaftslebens in dem Experimente fehl-
ten. Auch wenn wir es könnten, hätte es gar keinen wissenschaftlichen Sinn,
ebenso willkürlich kombinierend und trennend mit Menschen in ihrem
sozialen Leben umzuspringen wie mit den chemischen Grundelementen und
ihren Verbindungen. Im Gesellschaftsleben ist alles das, was die Men»
schen tatsächlich nicht unternehmen wollen, als unwirklich und für die
Wissenschaft bedeutungslos zu betrachten. Könnte der Soziologe nach
freiem Belieben Massenexperimente ausführen, so müßte er dennoch dafür
sorgen, daß sie in nahem Anschlusse an die tatsächliche soziale Praxis ge-
staltet würden, um ihnen überhaupt den nötigen Wirklichkeitswert zu be-
wahren" (Die Grundlage der Soziologie, S. 90- Daß unserm Kriegsexperü-
ment aber „die Faktoren des normalen Gesellschaftslebens fehlten", bedarf
keines Beweises. Krieg ist ziemlich der abnormste Gesellschaftszustand, den
wir kennen. Wir werden mithin abzuwarten haben, ob wir uns durch

* Aber die Ausdrücke klärt sehr gut auf das Buch „Staatssozialisrnus" des
liberalen Volkswirtschafters L. v. Wiese (Berlin, S. Fischer, M6, l M.), das
nachdrücklich empsohlen sei.

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