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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

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Heft 21 (1. Augustheft 1917)
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Freizügiger Nationalismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0158

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Eisenbahnnetzes neuen Verfolgungen aus. Sein „Eisenbahnjournal oder
Nationalmagazin für Erfindungen und Fortschritt in Handel und Gewerbe,
in öffentlichen Unternehmungen und Anstalten, sowie für Statistik, National«
ökonomie und Finanzwesen" wurde in Osterreich als staatsgefahrlich verboten,
und auf Ssterreichs Betreiben entzog ihm die sächsische Regierung das
amerikanische Konsulat. Alle deutschen Behörden erklärten seine Wirk«
samkeit für gemeingefährlich. Desgleichen die Vertreter der Herrschenden
Wissenschaft. Nicht als Schutzzöllner machte sich List bei allen MLchtigen
und Maßgebenden rn seinem Vaterlande verhaßt, sondern als Bekämpfer
von Binnenzöllen, als Vorkämpfer für Eisenbahnen und Freund aller
die Freiheit des deutschen Bürgertums fördernden Ideen und Linrrchtungen.
Als er ^8^6 in Kufstein seinem Leben aus Verzweiflung durch eine Pistolen-
kugel ein Ende bereitet hatte, schrieb tzeinrich Laube in den Grenzboten:
„Armer Freund! ein ganzes Land konntest du beglücken; aber dieses
Land konnte dir nicht einen Acker Erde, konnte dir nicht ein warmes tzaus
geben für die traurige Winterzeit des Alters!^ Wie läßt sich nun der
entsetzliche tzaß aller für „staatserhaltend^ und „national" geltenden be-
deutenden Deutschen damaliger Zeit gegen einen so durch und durch wahr-
haft national empfindenden und denkenden großen Landsmann wie Friedrich
List anders erklären? Wie anders, als dadurch, daß für die jeweils herr-
schenden Kreise als „national^ nur das empfunden wird, was der Be-
freiung abhängiger, weil besitzloser oder zu wenig besitzender Landsleute
aus Herkömmlichen wirtschaftspolitischen tzörigkeitsverhältnissen hinderlich ist?

Grundsätzlich hatte sich hierin bis zum Kriege wenig geändert. Ein
Beispiel: es hatte keinen Sinn gehabt, die Sozialdemokraten „vaterlands-
lose Gesellen" zu nennen, wenn man damit nur etwas Tatsächliches
ausdrücken wollte. Der sozialdemokratische Arbeiter, der nicht etwa schon die
sozialdemokratische Gesinnung vom Vater erbte, war vaterlandslos, bevor er
Sozialdemokrat wurde; denn er gehörte nicht zu denen, die soviel vom Vater-
lande besitzen, um als unabhängige Menschen über ihre Kräfte frei verfügen
zu können. Die Sozialdemokratie hat sich nur tatsächlichen Verhältnissen
angepaßt, indem sie den herkömmlichen Bationalismus verneinte. Wohl
konnte man ihr bisher vorwerfen, daß sie noch keinen neuen, freien Natio-
nalismus aus den veränderten Zeitumständen abgeleitet hatte, den ein ver-
nünftiger Internationalismus wohl zu ergänzen, aber nie zu ersetzen vermag.
Vaterlandslos im realen Sinne sind aber heute nicht nur die sozialdemo-
kratisch gesinnten „Proletarier^, sondern auch die allermeisten „Bürger^
und „Bauern". Der herrschende Nationalismus sieht die Dinge, als
bliebe der materiell am Vaterland Mitbesitzlose doch ideell vaterländisch
unbeschränkt interessiert. Dadurch spielt er gewissermaßen die Rolle eines
Testamentvollstreckers des seligen Patriarchalismus. Auch unter modernen
kapitalistischen Verhältnissen sollen die Besitzenden und Mächtigen noch
als wohlwollende Väter des Volkes erscheinen, die wohl die Verfügungs-
gewalt über die vaterländische Erde als Nährquelle, Wohn- und Werkstätte
besitzen, aber nur, weil sie väterlich darauf bedacht sind, daß jeder Ab-
hängige seinen gerechten Anteil vom Ertrage gemeinschaftlicher Arbeit
erhalte. Ietzt wird es auch verständlich, warum die Furcht unserer natio-
nalistischen Politiker vor der „ultramontanen Gefahr^ größer war als ihre
Liebe zu den Deutsch-Ssterreichern. Die Deutsch-Ssterreicher gehören zum
deutschen Volke: wohl, aber sie „gehören" auch den tzerren und Be-
herrschern Ves Gebietes der habsburgischen Monarchie. Vaterländisch soll

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