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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1917)
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Schumann, Wolfgang: Carl Sternheim
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https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0212

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räterische Worte. „Der bürgerlich-rnoderne Mensch mit seiner theoreti-
schen Betonung der »Individualität« ist ganz als das gesehen, was er ist:
als Masse. Damit ist er kulturell überwunden, und im Sinne dieser Aber-
windung sind die Komödien Sternheims eine Sprengung des modernen
Theaters." Nun, das Bürgertum wird diese Cafehausprozedur seiner
„kulturellen" Aberwindung so vergnügt überstehen, daß es sich noch ähn-
lich sein wird, wenn niemand mehr von Sternheim und Blei redet. Aber
das ist richtig, daß Sternheim schematisch sieht. Und gerade das ist das
tief Unzulängliche an ihm, dieses Steckenbleiben in ein paar Schein-
typen, ein paar grotesken Verallgemeinerungen. Nicht „Form", wie Blei
meint, nimmt der Stoff so an, sondern Grimasse. Blasse Abgezogenheiten,
wie etwa die Furcht vor dem Skandal, die Anbetung des Geldbeutels, die
Vergötzung des Kapitals oder der Parteiphrase stehen im Mittelpunkt,
und diese „verkörpert" Sternheim in zehnfacher Verdichtung in einzelnen
schematisch durchgeführten Zerrgestalten. tzier eine Probe seiner Technik
aus dem „Kandidaten". Ein reicher nationalliberaler Kandidat steht allein
in dem Saal, in dem die Wahlversammlung stattfinden soll, und „übt
Wahlrede": »Wenn ich die Konservativen mit einer Schlange oder einem
Drachen vergliche, die alles außer ihnen Lebendige verschlingen möchten?
Das ist verbraucht. Moderne Schlagworte: Schrapnell, Brisanz, Totali-
tät; überhaupt für die ganze Rede einen Vorrat gängiger Worte: Welt-
anschauung und Kultur, markig, völkisch, großzügig und — schürfen.
Schürfen — kann ich zwei- oder dreimal bringen. Da ist der Platz des
Präsidenten. (Lr zeigt auf einen Tisch.) Rechts und links die Protokoll-
führer. Und ich? Wo stehe ich? Ich brauche eine Tribüne. (Lr stellt
einen Stuhl umgekehrt vor sich, auf den er sich stützt.) Und ein Glas
Wasser. (Mmmt ein Glas Wasser vom Tisch des Präsidenten.) Ist
Zucker drin? (Lr kostet.) Ia! Alles sitzt. Der Präsident eröffnet die
Sitzung, und jemand ergreift das Wort. Wendet sich an mich und fragt
mich . . . Wo sitzt der Kerl? Rechts, nehmen wir an. Gut. Also wende
ich den Kopf mit plötzlichem Ruck — (er tut's). Nicht so. Plötzlichem Ruck.
(Lr tut's.) Der Mensch darf nicht zu weit entfernt sitzen. (Lr verläßt
seinen Platz und rückt den Stuhl in der ersten Reihe, auf dem der Lin-
gebildete sitzt, und die nebenstehenden näher zu sich heran.) Ich behalte
meine ruhig lächelnde Miene und stecke die tzand in die Weste. (Lr be-
sieht sich in einem tzandspiegel.) Den Kragen tiefer. Das ist zu tief.
So sehe ich wie ein Tenor aus — o Gott, und wieder packt mich diese
plötzliche Angst, hier in der Magengegend! (Er trinkt.) Ls geht vorbei.
Vorwärts, keine Schwäche! Also: „Und das sagen Sie mir, mein Herr?!"
Beide Hände gegen die Brust gestemmt, beuge ich mich vor. „Ich, der durch
vierzig Iahre, dessen völkisches Gefühl voll und ganz, ich — ach, Sie glau-
ben es ja selbst nicht." Alles lauscht bewegungslos. Lr erwidert; und
nun von neuem ich: „Ihre Beweise, tzerr! Man spaßt nicht mit der Gut-
gläubigkeit solchen Publikums." Ton und Geste bei solchen. Er schweigt.
Rnd jetzt Ironie mit überlegenem Lächeln — das muß ich noch üben:
„Allerdings bei diesem Tatbestand gebe ich mich besiegt, vollkommen be-
siegt." Nun behauptet ein anderer, ich lehne mich gegen irgend etwas
auf, ich untergrabe, erkenne nicht an. Da feuere ich los: „Sie verneinen
ja den Fortschritt, Herr!"« Da sind alle Elemente Sternheimscher Technik
beisammen: das ungeschickte, täppische Sich-selbst-zeichnen der Gestalten in
langen Monologen, das unermüdliche Aufzeichnen langer Reihen von
 
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