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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1917)
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Schumann, Wolfgang: Carl Sternheim
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https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0213

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Schlagworten, welche offenbar lächerlich wirken und im Hauptarnt den
ärmlichen Inhalt üblicher soziologischer Wesenheiten (Wahlreden, Kapita-
lismus, Stutzertum u. ä.) kennzeichnen sollen, während sie in Wahrheit
nur das Alleräußerlichste solcher Wesenheiten und als kleine Begleiterschei«
nungen in ihrer Albernheit vom jüngsten Zeitungschreiber seit Iahrzehnten
durchschaut sind, der gänzliche Mangel an irgend einer Grundierung,
Ausgestaltung, Vertiefung der Persönlichkeit — auch hier ist zum Beispiel
der ganze Monolog nichts als eine Folge von Karikaturwendungen, die
mit der Gestalt des Sprechers in keinerlei lebendigem Zusammenhang
stehen. Man lese nach dieser Hilflosigkeit einen Akt aus Ibsens „Bund
der Iugend", gewiß keinem Meisterwerk, aber man wird dann den Unter-
schied zwischen Sternheimscher Verhudelung eines Stoffes und dichterischer
Gestaltung eines ähnlichen Stoffes vor Augen haben. — In dem Schau»
spiel „Tabula rasa" (W6) versucht Sternheim eine Art Abrechnung
mit dem Sozialismus. Ein alter Arbeiter hat sich heimlich Kapital an«
gesammelt, inszeniert mit tzilfe verschieden gerichteter Agitatoren einen
„Rummel" in dem Bezirk seiner Fabrik, benutzt dazu in geschickter Weise
auch Kameraden und, als Lockmittel, junge Frauenspersonen, und erlangt
schließlich, ohne daß es zu Ausschreitungen kommt, ein rentegesichertes,
freies Alter. Scheinbar liegt der Schwerpunkt hierauf: daß ein Klügerer
an der Phrase fast erstickt und sich zu Freiheit und Selbstverantwortung
durchschlägt. Tatsächlich ist auch er nur ein ärmlicher Spieler, und die
dramatische Verspottung des Sozialismus ist erstens völlig veraltet — so
sah die Bewegung vor 20 Iahren für den Oberflächenbetrachter aus! —,
zweitens mit einer reporterhaften Seichtigkeit durchgeführt, die gegen-
über der Bedeutung der sozialistischen Bewegung nahezu zur dreisten
Anmaßung wird. Iede „blutige Satire" ist gestattet, aber der Lustspiel-
dichter, der geistig nur mit faulen Liern schmeißt, richtet sich selbst. —
Auch mit der Komödie „(9(3" hat Sternheim einen Stoff von Rang ent-
wertet. Lin Gemenge von Industriebaronismus erster und ödem Snobis-
mus zweiter Generation kommt da auf die Bühne; in Schlagworten und
Telegrammsätzen reden die Figürchen ihr Lebensprogramm herunter, und in
Intrigen entlädt sich eine familiale Spannung zwischen ihnen. Man muß
durch ein Vergrößerungsglas sehen, um etwas wie Leben in diesen Men-
schen und Vorgängen zu gewahren. Aber dann wird man das Mühsame,
Lrklügelte der Handlung, das Manieristische der Zeichnung, das — Lang-
weilige der Erfindung doppelt groß erblicken, das so wenig mit einer echten
Gestaltung oder einer „Äberwindung" des Geistes der Zeit vor dem Kriege
zu tun hat wie etwa der gelegentliche Versuch mancher Kulturwissenschaf-
ter, eine ganze Zeit <ruf einen einzigen philosophischen oder soziologi-
schen Begriff zu bringen. So leicht ist es nicht, den Geist einer Zeit zu
bannen, daß ein Sternheim dazu nur knappe Seiten brauchte. Zu
nichts aber ist ein Mann, der sich als Verneiner, als starrer, erfindung-
loser, blutarmer Karikaturist gibt, weniger geeignet als zum Führer einer
neuen Dichtung. Geht diese wirklich auf das Gerstige, auf die Schöpfung
zwar nicht neuer, aber eigner, eine Zeitlang vielleicht außer Acht gelas-
sener Werte, so bedarf es schöpferischer, nicht zersetzender Kräfte. Nicht
das Abrechnen mit dem Phantom einer Bürgerlichkeit, die in Wahrheit
ganz anders aussieht, ist die Aufgabe einer geistigen Bewegung, sondern
das Bilden und Gestalten werbender Werte.

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