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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

DOI Heft:
Heft 24 (2. Septemberheft 1917)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Über Soziologie
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https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0255

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kann, sondern mit Schanden gestürzt wird. Der Fall wäre gut denk-
bar, auch wenn der Minister sein Amt nach bestem Wissen und mit
Geschick verwaltete. Warum fällt er? An Anpassungwillen und An-
passungfähigkeit fehlt es ihm nicht, an Einsicht in die Sachlage ebenso-
wenig, nicht einmal an Erfolg. Aber es ist, als ob die Luft „da obeu"
ihm nicht bekäme. Kein Paragraph der Verfassung, kein Gesetz fällt ihn,
kein Parlament, nur ein Zwang der Atmosphäre scheidet ihn aus. Oft
entläßt ein Beamtenbetrieb, eine Staatsregierung einen tüchtigen Mann;
man pflegt dann zu sagen: er war zu wenig Bürokrat, oder: er paßte
nicht in die Aristokratenluft der Regierung. Keine Wissenschaft aber fühlt
sich zuständig, zu sagen, was „Atmosphäre", „Bürokratismus", „Aristo-
kratenluft" eigentlich ist.

3. Ein tüchtiger, leidenschaftlicher Musiker schreibt eine Oper. Sie wird
aufgeführt, hat guten Erfolg, und verschwindet doch vom Spielplan rasch.
Rnser bestes Gefühl lehnt sich auf — warum das? Die Kritiker ver--
suchen es mit Erklärungen über die Mängel des Werks, aber diese Er-
klärungen lahmen. Die Theaterleute finden Bühnenwidriges in dem
Werk, aber wir stocken bei dem Begriff — was ist bühnengerecht? Was
Erfolg hat? Als aber das Werk Erfolg hatte, entsprach es da auch nicht
den Ansprüchen der Bühne? Doch wohl! Allerdings, das Publikum der
zweiten und dritten und der folgenden Aufführungen war ein anderes
als das der ersten. Unterscheiden sich die jeweils an einem Abend ein
Theater füllenden Mengen aber denn so tief voneinander? In anderen
Fällen doch nicht! Was wir zur „Erklärung" unsres angenommenen, in
Wirklichkeit sehr HLufigen Falles wissen, ist dies: ein Bühnenwerk gerät,
sobald es aufgeführt wird, in ein Getriebe, welches ganz von zwischen-
menschlichen Beziehungen, von wirtschaftlichen Triebkräften, Mengenstim-
mungen, überlieferten Meinungen usw. erfüllt ist, ein Getriebe, das wir
gerade jetzt in seiner ganzen Organisation als „Ausdruck" einer bestimm-
ten Art menschlichen Gemeinschaftlebens zu begreifen beginnen. Dieses
Begreifen-beginnen bedeutet aber nichts andres als das allmähliche Wer-
den einer „Soziologie des Lheaters".

Den Meisten unerwartet, selbst den „Vertretern" der Richtung über-
raschend, mehrte sich während des Krieges plötzlich die Zahl der Dichtun-
gen ins Unübersehbare, die einer bestimmten, „neuen" Gattung anzuge-
hören schienen. „Wie Pilze" schossen sie aus dem Boden. Die „neue
Richtung" war über Bacht aus einer Absonderlichkeit Vereinzelter eine
tzerzenssache Vieler geworden. Niemand kann glauben, daß dergleiche^
sozusagen auf Verabredung geschieht; es war nicht ein tzeer von Schrift-
stellern auf Befehl eines Heimlichen Kaisers plötzlich mobilisiert worden.
Der Antrieb lag in den meisten Fällen im Anbewußten des Einzelnen.
Wer da von „Mode" spricht, verdeckt eine Lücke des Erkennens mit einem
leeren Wort. Denn was ist Mode — das Wort wirft selbst ein sozio-
logisches Problem auf. Iedenfalls weist jener Vorgang hin auf Erleb-
nisse, welche Viele gleichzeitig durchgemacht haben und welche in Vielen
den Drang erweckten zu dieser neuen Art, sich dichterisch auszudrücken.
Wiederum nicht: individuelle Erlebnisse, da es äußerst unwahrscheinlich
wäre, daß viele tzunderte ganz „privatim", für sich allein dasselbe erleb-
ten. Sondern offenbar: zwischenmenschliche Erlebnisse. Aber welche?
Es ist eine der Aufgaben der Soziologie, den gemeinsamen Erlebnisgrund
solcher gesellschaftlicher Erscheinungen, und darüber hinaus die verschie-
 
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