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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

DOI Heft:
Heft 24 (2. Septemberheft 1917)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Über Soziologie
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https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0256

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denen Arten der Abwandlung des Erlebnisses zu erforschen. Damit wäre
eine Dichtung nicht „erledigt", aber im Rätselhaften einer umsassenden
Lebenserscheinung Sinn gefunden.

5. Kenner vermuten, daß nach Friedensschluß Hunderttausende von un-
verheirateten Kriegsteilnehmern in ungewöhnlich leidenschaftlicher Weise
sich zur Verheiratung drängen werden; ebenso wissen wir dies von zahl--
reichen inzwischen herangewachsenen unverheirateten Frauen. Dabei fehlt
es noch immer an Möglichkeiten, mehr tzeiratfähige des andern Geschlech«
tes kennen zu lernen, als der enge zufällige Bekanntenkreis enthält, so
daß zahllose Mißerfolge und Mißehen vorauszusehen sind. Nichts wäre
leichter als gesellschaftliche Einrichtungen zu treffen, welche das gegen«
seitige Sichkennenlernen der Heiratlustigen wesentlich erleichtern würden;
wir dulden solche Einrichtungen in unzweckmäßigen und sogar wider-
wärtigen Formen, wir dulden Noteinrichtungen (Anzeigen, Vermittler-
agenturen usw.), aber wir schaffen keine besseren. Warum nicht?
Ls gibt doch Einsichtige genug. Und wenn ihrer zu wenige sind, warum
sehen so wenige das Naheliegende ein? Irgendein dunkler Zwang wirkt
der Vernunft entgegen . . .

6. Viele bedeutende Iuristen meinen, das Schweizerische Zivilrecht sei
besser und zweckmäßiger als das deutsche und könne leicht übertragen
werden. Rnd doch erörtert kaum jemand diese Frage. Wirkt ein sachlicher
Grund gegen die Abertragung oder nur Trägheit? Rnd wenn nur
Trägheit — was ist eigentlich „Trägheit", wodurch entsteht sie, wo be-
fruchtet sie sich, wie wird sie bekämpft?

7. Ein bedeutender Gelehrter schreibt ein Buch über Rußland. Die
Verfassung-Paragraphen und Gesetze des Landes, die Statuten der öffent-
lichen Linrichtungen, die Parlamentberichte, die Statistik und die ge-
schriebenen und gedruckten Quellen der Wirtschaft- und Sozialgeschichte
hat er sorgsam verwertet, und alles ist im Einklang damit klug und klar
dargestellt. Ich gebe das Buch einem Russen, der bezeichnet es als eine
große Lüge. „Das sagt alles nichts, denn nichts geschieht bei uns so, wie
es geschrieben wird: die Verfassung 'ist unwirksam, das Recht unwirksam,
die Statistik gefälscht, die Geschichtschreibung unlebendig, die Statuten
stehn nur auf dem Papier!" Gegenfrage: Aber was ist denn wirksam?
„Der Geist des Zarismus!" Wäre jener Gelehrte ein sehr reger Geist, er
würde vielleicht neben sein papierenes Rußlandbuch ein Buch vom
lebendigen Rußland stellen. Das müßte anders erarbeitet werden, nicht
aus Büchern und Papier, sondern aus Miterlebnis. Iunächst würde es
scheinen, als ob dann nur Feuilletons herauskommen könnten; aber wenn
wir völkersoziologische Methoden hätten, würde dieser Schein verfliegen.
Indes, wir beginnen eben erst einzusehen, daß da eine neue, mit bis-
herigen Mitteln unlösbare Aufgabe ist, eben eine — soziologische.

8. Wir rühmen uns unsrer Organisation. Was ist Organisation?
Was für Menschen gehören dazu, welche Eigenschaften, welche Anord-
nung der Menschen, wie erlebt man Organisiertheit, wie erzieht man zur
Organisierbarkeit und zur Fähigkeit zu organisieren? Auf solche und
Dutzende von anderen, das Rätsel Organisation betreffende Fragen gibt
keine Wissenschaft Auskunft. Die Soziologie wird es versuchen.

y. Alle Menschen, oder so viele, daß die anderen dagegen verschwin-
den, wünschen, daß Friede herrsche. Aber es herrscht Krieg. Warum?
Weil die Menschheit nicht organisiert ist. Warum ist sie nicht organi-

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