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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 23.1908

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Utitz, Emil: Der neue Stil: Ästhetische Glossen
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https://doi.org/10.11588/diglit.6701#0093

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massen und das wohl abgewogene Ver-
hältnis dieser zu einander. Und ähnlich sagt
einer unserer besten, modernen Architekten
Fritz Schumacher: »Das Abwägen der
Raumverhältnisse, das Gliedern in Tragendes
und Getragenes, das Vor und Zurück der
Massen, das Widerspiel von Fläche und Öff-
nung, von Hell und Dunkel, das sind die
Urelemente aller architektonischen Wirkung.«
Und diese Massenanordnung, und die durch
sie bedingte Raumgestaltung, die ganze Strenge
der architektonischen Anlage, das sind Haupt-
kennzeichen modernen Kunstgewerbes. Sie
verleihen ihm seine Eigenart und Sonderheit.
Daß der Raum eine einzige organische,
architektonische Einheit bildet mit allen Dingen,
die ihn erfüllen, ist eine der wichtigsten
Errungenschaften der neuen Bewegung.

Was folgt nun aus diesen Formprinzipien
für den Eindruck? Mit vier Worten glaube
ich ihn charakterisieren zu können: Ruhe,
Geschlossenheit, Ernst, Feierlichkeit. Und
ein derartiger Eindruck, der solche Wirkungen
zeitigt, kann nicht als schlechter bezeichnet
werden.

Aber auch Bedenken steigen auf. Das
Gespenst der Einförmigkeit und Langeweile
lauert in der Nähe, weil die Abwechslung
fehlt und die ernste Feierlichkeit leicht in
philiströse Pedanterie umschlägt. Auch der
Mangel an Freudigkeit und Heiterkeit wird
ebenso schwer empfunden, als die gewisse
Nüchternheit, die gar vielen modernen Wohn-
räumen eignet. Und woran liegt das? Ich
glaube an der allzu einseitigen Betonung des
Tektonischen. Gegen das Prinzip habe ich
nichts einzuwenden; im Gegenteil es erscheint
mir als höchst berechtigt und lobenswert.

Aber übertrieben darf es nicht werden, denn
es bildet gleichsam ein gesundes, starkes
Gerippe. Aber nur Gerippe? Das dünkt
doch dürftig. Wir verlangen auch nach blühen-
dem Fleisch. Und dies muß der Schmuck
geben, wobei wir diesen Begriff im weitesten
Wortsinn fassen.

Aber wie das Fleisch — um bei unserem
Beispiel zu bleiben — organisch um das
Gerippe sich anordnet, so muß auch der
Schmuck organisch aus der architektonischen
Grundanlage emporwachsen. An Versuchen
fehlt es ja nicht, und teilweise sind sie recht
zukunftstark. So bedient man sich heute
häufig des Materials nicht nur als Bildungs-
mittel, sondern auch —■ in viel höherem
Maße als früher — als Wirkungsmittel. Und
indem man alten Materialien neue Wirkungen
entlockt, neue Materialien in Verwendung
bringt, schafft man schon reiche Schmuck-
möglichkeiten. Andere wieder bieten Linien
und Flächenornamente, Einlagen, Farbenzu-
sammenstimmungen usw. Die Anfänge sind
da; die Wurzeln keimen. Hoffen wir auf
baldige Blüten!

Aber diese Strenge und Herbe unseres
neuen Stils ist kein schlechtes Zeichen, denn
sie eignet jeder jungen, starken Bewegung,
die naturgemäß vom Einfacheren ausgehend
erst allmählich zu reichen Verwicklungen ge-
langt. So ist denn der romanische Stil ein-
facher denn der gotische; die Renaissance
einfacher, denn das Barock. Indem ein Stil
sich auslebt, wird er von selbst üppiger und
blühender. Und unser Stil wird auch diesen
Weg gehen, so lange, bis er am Ende in
Manier erstickt.

Doch das hat hoffentlich noch gute Weile I

1909. L 11.

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