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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 23.1908

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Utitz, Emil: Reform der Tanzkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.6701#0257

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Reform der Tanzkunst.

aus ihren wilden Tänzen heraus zu den Zuschauern
herüberwehte. Das war Freude des Körpers und
Jubel der Bewegung! - eine lange nicht gehörte
Sprache. Und sie gefiel dem Auge, das die
grotesken, traurigen Verzerrungen des üblichen
Balletts anwiderten. Das Leben hatte die Tanz-
kunst erobert, jene Kunst, die vielleicht am engsten
mit ihm verwachsen ist. Das war der Anfang.

Und dann kam die Duncan. Sie ist die
eigentliche Theoretikeriii der neuen Tanzkunst,
die mit voller Bewußtheit an deren Reform heran-
ging. Welch herrliche Wirkungen in dieser Rich-
tung liegen, davon gaben vor allem die Auf-
führungen der Duncanschule eine Vorstellung.

Manchmal schoß man natürlich über das
Ziel und wollte tanzen, was sich nicht tanzen
läßt. Man versuchte Ausdruck in den Tanz zu
legen , den er nicht zur Wirkung bringen kann,
wo seine Mittel versagten und die Grenzen ihrer
Geltung sich in aller Schärfe zeigten. Aber
welche neue Bewegung irrte nicht oft! Man
warte nur die Reife ab. Die Auswüchse werden
von selbst sich legen.

Und nach der Duncan kamen manche andere,
von denen nur zwei erwähnt sein, die gerade
den malerischen Gesichtspunkt mit in den Vorder-
grund rücken. Es sind dies Rita Sacchetto und
die Schwestern Wiesenthal.

Doch der Leser, der mir bis hierher folgte,
wird vielleicht ungeduldig fragen: was geht denn
dies alles die bildenden Künste an? Wieso ge-
hören denn solche Betrachtungen in eine Zeit-
schrift, die der Kunst des Auges gewidmet ist?
Nun, die Antwort fällt nicht schwer: Auch der
Tanz ist ja ohne Zweifel Kunst für das Auge. Nur
auf das Auge kann er wirken. Und so arbeitet
der Tänzer wie der bildende Künstler für das Auge.
Und manche der Gesetze, welche im Reiche der
bildenden Künste gelten, erstrecken sich auch auf
den Tanz. Allerdings klafft ein gewaltiger Unter-
schied zwischen Tanz und bildenden Künsten. Ich
meine nicht nur den, daß der Tanz in Zeit und
Raum, die bildenden Künste aber nur im Raum
sich bewegen, sondern in erster Linie die Tatsache,
daß der Tanz auf der Musik sich aufbaut, daß sie
ihm den bestimmenden Grundton gibt, Art und
Charakter, Rhythmus und Bewegung, Form und
Gehalt. Er drückt in seiner Sprache den Gefühls-
reichtum der Musik aus, er dichtet sie um für die
Mittel, die ihm zur Verfügung stehen. Und daraus
ergibt sich leicht, daß nicht jede Musik getanzt
werden kann. Wo nicht ihr Gehalt durch Be-
wegungen ausdrückbar ist, verliert der Tanz sein
Recht. Wird er trotydem versucht, mangelt ihm
die Klarheit, oder die Musik wird durch ihn ver-
gewaltigt. Statt daß Tanz und Musik einander

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fördern, in gleicher Richtung wirken und so vom
aufnehmenden Bewußtsein zur Einheit zusammen-
gefaßt werden, stören sie dann einander, ja führen
einen gegenseitigen Kampf, in dem beide unter-
liegen.

Aber wir wollen nun von dem Tanz sprechen,
insoweit er das „Auge" angeht. Und da ist zweier-
lei zu beachten. Das Gewand der Tanzenden und
der Rahmen, in dem der Tanz vor sich geht, müssen
ein das Auge befriedigendes Bild liefern, und zwar
ein Bild, das der Stimmungswelt des Tanzes an-
gemessen ist. Ist das farbige Bild unlustvoll, be-
leidigt es unser Auge, oder macht es gar das
Hinsehen zu einer Qual, dann ist im vorhinein aller
Genuß zerstört, während eine geschmackvolle Auf-
machung stark stimmungsfördernd wirken kann.
Hier erwachsen demnach für den bildenden Künst-
ler neue und dankbare Aufgaben, und zwar für
bildende Künstler, die etwas vom Tanz und von
der Musik verstehen. Ist dies der Fall, können sie
„Feste des Auges" im wahrsten Sinne schaffen.

Und nun wenden wir uns dem zweiten Punkte
zu. Die jeweiligen Bewegungen der Tanzenden
müssen dem Auge wohlgefällig sein. Natürlich
können auch zuweilen entsprechend den Disso-
nanzen in der Musik Stellungen eintreten, die an
sich nicht einwandfrei sind. Doch wie die Disso-
nanzen in Harmonien sich auflösen, vermögen ja
auch jene Stellungen in andere herüberzuleiten,
die vollkommen befriedigen. Haupterfordernis aller
Stellungen und Bewegungen ist Klarheit der An-
sicht, sie müssen verständlich wirken, und damit
nähern wir uns den Forderungen, die Hildebrand
in seiner Schrift: „Das Problem der Form in der
bildenden Kunst" aufstellte. Weiterhin bedarf alles
Dargebotene der Beseelung: Stellungen und Be-
wegungen müssen etwasbedeuten, Gefühlsausdruck
sein, nicht lediglich verschiedene Muskelspannung
wie in der Akrobatik. Und auch dieser Gefühls-
ausdruck muß zu klarer, faßlicherWirkung gelangen,
um den Gehalt der Musik erschöpfen zu können.
Und noch eine elementare Forderung ist hier zu
stellen: der Tanz soll einem einheitlich dahin-
strömenden Flusse gleichen, also nicht hin und
wieder eine „schöne Gruppe", sondern ein stän-
diges Weiterfluten, keine abgebrochenen Linien.
Denn dies muß ja die Stimmung zerreißen.

Diese wenigen Andeutungen mögen genügen.
Die bildende Kunst hat das Theater in ihren
großen Eroberungszug eingeschlossen, sie schickt
sich nun auch an, die Tanzkunst in ihrer Weise
zu reformieren. Noch sind erst die Anfänge getan.
Aber wir haben doch schon eine neue Tanzkunst,
und die Tatsache, daß ihr nun in Darmstadt ein
ständiges Heim beschieden wird, läßt uns das
Beste für die Zukunft hoffen, n«- emilutitz präg.
 
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