Vom Wesen ■ der künstlerischen Begabung
ARCHITEKT CARL WITZMANN - WIEN.
Zimmer der Tochter. Blauesche, blau mit Perlmutter-Einlagen.
Ausgeführt von H. Irmlcr—Wien.
steine der Entwicklung! Ich denke an die
Leiden der Zufrühgeborenen und die der Zu-
späten. Wer hilft den Zufrühen ihren Wert
erkennen? Wer entschädigt die Zuspäten für
Fähigkeiten, die unter den Zeitumständen nicht
entsprechend ausgenutzt werden können?
Welche Laune treibt hier ihr Spiel? Wir
rühren an das Wesen jenes tief reichenden
Gesetzes des Fortschrittes, dieses ununter-
brochenen Werdens, das so außerordentlich
scheint und im Grunde so minimal ist, nur das
Außere angreift, verändert, modelt, und doch
bis in die letzten Gebiete unserer Tagesbe-
dürfnisse herrscht, wie uns der Wechsel der
Mode, dieser flüchtigsten launischsten Erschei-
nung des künstlerischen Stils lehrt. Das Werden
der künstlerischen Produkte ist an eine be-
stimmte Bahn gebunden, weil der Menschen-
geist, dieser Funke des Ewigen, sich immer
gleich bleibt und die Vorsehung, diesen Wan-
del der sichtbaren Konkretion der Idee —
Wellenlinien, rhythmische Oscillationen, die auf
den verschiedensten Gebieten vielleicht noch
einmal physikalisch meßbar sind — gewisser-
maßen nur zur Anregung und Täuschung
der armen Erdenkinder eingeschaltet hat, ihr
aus weiterer Perspektive komisch-eifriges Ge-
bahren bis in alle Ewigkeit auf dem Laufenden
zu halten.
In den Reichen der Kunst führt dieser
Wechsel zu schweren Komplikationen. Wagt
z. B. heute einer zu malen, wie man vor
50 Jahren malte, er ist verloren; und doch
könnte eine leichte Biegung seiner Begabung
vielleicht die Richtung geben, die in weiteren
20 Jahren im Schwung ist, und ihn so zu
einem Vorläufer umschaffen. So ist er nichts;
denn (da liegt das Ausschlaggebende) er malt
nicht einmal genau so, wie man vor 50
Jahren malte, weil keine Richtung je so
wiederkehrt, wie sie einmal war. Und so fehlt
seinem Produkt notwendig der Duft des orga-
nisch Gewachsnen, da die neue Zeit seine
Begabung ungünstig beeinflussen mußte. Denn
nur die Werke, die der Ausdruck einer Zeit
sind, vermögen in ihrer Geschlossenheit immer
wieder auf den Beschauer zu wirken und sich
so Unvergänglichkeit zu sichern. —
295
ARCHITEKT CARL WITZMANN - WIEN.
Zimmer der Tochter. Blauesche, blau mit Perlmutter-Einlagen.
Ausgeführt von H. Irmlcr—Wien.
steine der Entwicklung! Ich denke an die
Leiden der Zufrühgeborenen und die der Zu-
späten. Wer hilft den Zufrühen ihren Wert
erkennen? Wer entschädigt die Zuspäten für
Fähigkeiten, die unter den Zeitumständen nicht
entsprechend ausgenutzt werden können?
Welche Laune treibt hier ihr Spiel? Wir
rühren an das Wesen jenes tief reichenden
Gesetzes des Fortschrittes, dieses ununter-
brochenen Werdens, das so außerordentlich
scheint und im Grunde so minimal ist, nur das
Außere angreift, verändert, modelt, und doch
bis in die letzten Gebiete unserer Tagesbe-
dürfnisse herrscht, wie uns der Wechsel der
Mode, dieser flüchtigsten launischsten Erschei-
nung des künstlerischen Stils lehrt. Das Werden
der künstlerischen Produkte ist an eine be-
stimmte Bahn gebunden, weil der Menschen-
geist, dieser Funke des Ewigen, sich immer
gleich bleibt und die Vorsehung, diesen Wan-
del der sichtbaren Konkretion der Idee —
Wellenlinien, rhythmische Oscillationen, die auf
den verschiedensten Gebieten vielleicht noch
einmal physikalisch meßbar sind — gewisser-
maßen nur zur Anregung und Täuschung
der armen Erdenkinder eingeschaltet hat, ihr
aus weiterer Perspektive komisch-eifriges Ge-
bahren bis in alle Ewigkeit auf dem Laufenden
zu halten.
In den Reichen der Kunst führt dieser
Wechsel zu schweren Komplikationen. Wagt
z. B. heute einer zu malen, wie man vor
50 Jahren malte, er ist verloren; und doch
könnte eine leichte Biegung seiner Begabung
vielleicht die Richtung geben, die in weiteren
20 Jahren im Schwung ist, und ihn so zu
einem Vorläufer umschaffen. So ist er nichts;
denn (da liegt das Ausschlaggebende) er malt
nicht einmal genau so, wie man vor 50
Jahren malte, weil keine Richtung je so
wiederkehrt, wie sie einmal war. Und so fehlt
seinem Produkt notwendig der Duft des orga-
nisch Gewachsnen, da die neue Zeit seine
Begabung ungünstig beeinflussen mußte. Denn
nur die Werke, die der Ausdruck einer Zeit
sind, vermögen in ihrer Geschlossenheit immer
wieder auf den Beschauer zu wirken und sich
so Unvergänglichkeit zu sichern. —
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