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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 35.1914-1915

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Raphael, Max: Der Tastsinn in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7013#0175

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Der Tastsinn in der Kunst.

Formen spähe, die
Hand leite die
Hüften hinab?
Dann versteh' ich
den Marmor erst
recht; ich denk'
und vergleiche,
Sehe mit fühlendem
Aug', fühle mit
sehender Hand.
Oft sah ich den
Maler Pechstein
mit seinen Fin-
gerspitzen über
die fertigen Bil-
der gleiten. Um
die trockene Far-
be zu fühlen? Um
aus der Lagerung
der Materie den
Gehalt des Bildes
herauszutasten.
Sobald die Ma-
terie Festigkeit
und Wägbarkeit
gewinnt, etwa im
Mosaik, nimmt
dieses Gefühl zu.
Sein Maximum
erreicht es gegen-
über der räum-
lichen Form, der
Plastik. Wie oft
sah ich Bildhauer
■— zuweilen mit
geschlossenen Au-
gen — über eine
Skulptur tasten!
Des Stoffes we-
gen? Es scheint
mir unzweifelhaft,
daß der ausge-
bildete Tastsinn
nicht nur wie der
laienhafte die Ma-
terie tastet, son-
dern die Form und
das in ihr zum
Ausdruck kom-
HendeLeben. Die
zu ertastende Dif-
ferenz und Art der
Uberleitung zwi-
schen Erhöhung
Ul>d Einsenkung,
die ertastbare Of-
fenheit und Ge-
schlossenheit des
Umrisses, dieWöl-

KUNSTGEWERBE-SCHULE CHARLOTTEN BURG. » KUNST VERGLASUNG.«

bungsgrade der
Formen sagen ihm
so viel wie das
Auge. Die Exi-
stenz der Plastik
als Kunstwerk
wird erst möglich
durch die Erta-
stung. Und wenn
die Tastvorstel-
lungen vielleicht
weniger Data für
das intellektuell
formulierbare Be-
wußtsein geben,
so vermitteln sie
das Künstlerische
in demselben Ma-
ße reiner, artisti-
scher. Der Tast-
sinn als rezeptives
Organ bildet sei-
nen Gegenstand
eben so völlig wie
Auge und Ohr. —
Ehe ich dazu
übergehe, unseren
Sinn als schaffen-
den Faktor zu
zeigen, möchte
ich mit einem kur-
zen Hinweis auf
seinen inneren
Umfang, auf seine
Gelenkigkeit, die
Analyse beschlie-
ßen. Man hat in
den letzten Jahren
viel von dem Zu-
sammenklingen
der beiden Haupt-
sinne gesprochen;
das Wort „audi-
tion coloree" war
fast in aller Mund.
Daß dieselbe Er-
scheinung immer
für das Getast ge-
golten hat, zeigt
uns die Sprache,
die Bezeichnun-
gen wie „harte
Worte" etc. in
ihrem ständigen
Gebrauchsschatz
aufweist. — Wie
angedeutet, be-

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