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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 39.1916-1917

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Meyer, Richard: Kinderarbeiten - eine Forderung an die Schule
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https://doi.org/10.11588/diglit.8535#0149

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STAATL. KUNSTGEW.-SCHULE HAMBURG.

SCHULERAKHKIT l'Ul'l'KNSI'IKI.«

KINDERARBEITEN-EINE FORDERUNG AN DIE SCHULE.

Im Märchenlande zu wandeln ist eins der herr-
lichsten Vorrechte der Kinder. Es war ein-
mal. — Köstliche Empfindungen werden in uns
wach, wenn wir uns der Geschichten erinnern,
die uns durch jene einleitenden Worte in die
Zaubergärten der Phantasie, die mit gütigen
Feen und mit bösen Geistern bevölkert waren,
führten. Noch deutlich erinnern wir uns der
Wirkungen, die die Kunst der Poesie geheim-
nisvoll in unseren Herzen entzündete. Wir
fühlen noch unsere Wangen glühen, wenn wir
jener ersten Wallungen unseres Gefühls ge-
denken. In unserer Phantasie baute sich eine
besondere Welt auf, reich und schön, gut und
böse, die allmählich durch die rauhe Wirklich-
keit abgelöst wurde. Unsere Erfahrungen, so
gering sie anfänglich waren, häuften sich, sie
wuchsen mit uns. Wir drängten von einem
Erlebnis zum anderen, denn im Erleben emp-
fanden wir unsere stärksten Glücksempfin-
dungen. Wenn wir uns eine Grube gruben, mit
nassem Sand Kuchen backten, oder, größer
geworden, mit alten Balken und Brettern uns
Häuser bauten, dann schwand die Zeit im Fluge

dahin, dann waren wir glückliche Kinder. —
Aus dem Spiel wurde bitter böser Ernst.

Ein zweiter Abschnitt unseres Lebens, der
scharf vom ersten gesondert war, folgte. Aus
der fröhlichen Kinderstube, aus dem sonnigen
Garten kamen wir in die Schule, um mit vielen
anderen zusammen die „Arbeit" zu lernen.
Kannten wir sie denn nicht? — Hatten wir
denn nicht gearbeitet vom Aufstehen bis zum
Niederlegen? — Wir hatten gespielt — ja, aber
wir hatten mit eigenem Willen gestaltet und
höchste Lust dabei empfunden. Nun mußten
wir lernen, lernen und unsere Hände gefaltet
auf dem Tische halten, die so gerne alles das
verwirklicht hätten, was die Phantasie uns er-
sann, die anfänglich neben dem Lernen einher-
ging und darauf wartete, wieder frei zu werden.
Der Tag der Befreiung für unsere unterdrückte
Phantasie kam nicht, unsere Hände hatten nichts
mehr zu tun, nur unser armer Kopf, und so
wurde die Arbeit, die uns einst so unendliche
Freuden bereitet hatte, vielfach zur Qual. Aus
Kindern werden Leute, die im praktischen
Leben sich abfinden müssen, ob sie nun dafür

XX. Oktobtr 1916. 14
 
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