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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 39.1916-1917

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Brinckmann, Albert E.: Vom Vorstellen und Gestalten des Kunstwerks
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https://doi.org/10.11588/diglit.8535#0403

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VOM VORSTELLEN UND GESTALTEN DES KUNSTWERKS.

VON PROF. DR. A. E. BRINCKMANN—KARLSRUHE.

In jedem Kunstwerk veranschaulicht sich für
die rezeptive Vorstellung des Betrachtenden
eine Summe geistiger Arbeitsleistung des ge-
staltenden Künstlers, dessen längere oder kür-
zere produktive Vorstellungsreihen sich im Ma-
terial objektiviert haben. Alle anschaulichen
Formen haben ihr Leben in der Vorstellung des
gestaltenden Künstlers hinter sich. Man ist
versucht, für ihre langsame Herausschälung aus
dem Geistigen zum Anschaulichen das Bild der
Kristallisation zu gebrauchen, doch träfe ein
solches Gleichnis den Gestaltungsvorgang nur
halb. Es werden nicht einzig Teile, die das
Kunstwerk ausmachen, angezogen und nach
gefaßtem Plan gebildet, sondern ebensosehr und
vielleicht sogar in reichlicherem Maß werden
Teile als unrein abgestoßen. Das Endergebnis
schwebt nicht sogleich intuitiv vor, sondern es
entfaltet sich nach und nach im Vorstellen, Ge-
stalten, Bilden und Formen. Im gestaltenden
Künstler herrscht geradezu ein Chaos von her-
vorstrahlenden und erbleichenden Ideen und
Formen, von Gestaltungsmöglichkeiten und
Ausdrucksbeziehungen, die seinen Geist dehnen
und ihn oft zu sprengen drohen, ohne daß er
sich sofort Rechenschaft von ihrem Wert für
das endgültige Ergebnis, für das Kunstwerk, zu
geben vermöchte. Vielmehr erscheint ihm, dem
Gestaltenden, jeder Zustand seiner Vorstel-
lungen als Repräsentant einer wahren Ewigkeit
von besonderem Wert; erst der zeitliche Ab-
lauf der sich folgenden Vorstellungen sondert
aus, bewertet relativ, sodaß gerade eine reiche
Begabung höchstes Glück und tiefste Qualen
im Gestalten findot.

Und selbst das Endergebnis, das anschau-
liche Kunstwerk, ist kein Abschluß der Vor-
stellungsreihen. Häufige neue Fassungen des
alten Motivs sind dafür Beweis, die einmal in
Bewegung gesetzte Vorstellung hält nicht plötz-
lich ein, der zeitlich festgelegte Punkt der Bild-
beendigung ist nicht zugleich auch für sie Ziel
und Ende, sondi n sie gestaltet an dem aufge-
nommenen bildnerischen Problem weiter. Es
hat Künstler gegeben, wie Lionardo da Vinci,
mit einer so ungeheueren Fülle innerlichen Vor-
stellungsvermögens — „innerlich voller Figur
sein" nennt es Dürer —, daß sie kaum noch
Interesse für zeitraubende Veranschaulichung
eines Vorstellungs - Ergebnisses fanden. Ein
schlechter Künstler, der jemals fertig wird, der

nicht zugleich auch gegenüber dem abgeschlos-
senen Kunstwerk — und man nehme den Aus-
druck abgeschlossen ganz wörtlich — in dem
Gefühl der endlichen Befreiung heimgesucht
würde von einer schmerzlichen Ergriffenheit,
wie sie der Eremit haben mag, der freiwillig die
Welt mit der Einsamkeit vertauscht — nur daß
dem Künstler die Vorstellung zum Schlüssel einer
erneut aufleuchtenden Welt zu werden vermag.

Versteht man das Vorstellen und das Ge-
stalten am Kunstwerk als Wirbel geistiger Vor-
stellungen, so findet man auch einen Weg zu
einer Seite des Expressionismus, der diesen
Wirbel nicht in zeitlicher Abfolge und Welle
um Welle nicht durcheinander bedingt nehmen
möchte, sondern das Nacheinander und die Be-
dingtheit ersetzt durch Gleichzeitigkeit und
Gleichwertigkeit. Und es sind letzten Grundes
nur Prinzipienfragen und Fragen der geistigen
Beweglichkeit, ob man das eine oder das andere
ablehnt oder die Berechtigung beider Kunst-
ausdrücke zugibt. Ob man verlangt, daß die
künstlerische Gestaltungskraft alles Nachein-
ander der sich ablösenden Vorstellungen auf
eine Quersumme bringe, oder ob man zugibt,
daß dieses Nacheinander zu einem Beieinander
im Kunstwerk werden könne und es dem Be-
trachter überlassen bleibt, wie einstmals gegen-
über der letzten Entwicklung des Impressionis-
mus eine Synthese der Farbenteilchen selbst
vorzunehmen, so nun auch hier eine Synthes^
der Vorstellungsreihen nach Idee und Form zu
finden. Auch darin liegt die Bedeutung des
expressionistischen Kunstwerks für die rezep-
tive Vorstellung des Betrachtenden: Fäden,
die sich nicht zu einem Knoten schürzen, spinnen
sich fort. Mit anderen Worten: der Betrachter
wird leichter in den Vorstellungsvorgang mit
hineingerissen. Wenn wir aber, wie weiter
unten dargelegt wird, dem Vorstellungsvorgang
größte Bedeutung für das Verständnis des end-
gültigen Kunstwerks zuschreiben, so ruhen hier
nicht zu unterschätzende Werte des expressio-
nistischen Kunstwerks. Fast paradox klingt es,
aber es ist doch so, daß das expressionistische
Kunstwerk sich leichter gibt, wie die kühle
Ruhe einer endgültig vereinheitlichten Vorstel-
lung im Kunstwerk. Es scheint einzig darum
anders, weil die rezeptive Vorstellung so gar-
nicht geschult ist, produktiven Vorstellungs-
reihen nachzudenken. Wir sind der Über-

XX. März 1917. 4
 
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