Abstrakte Kunst und Ausführung.
eine Geschichtsschreibung nicht möglich ist)
entnahm sie dem herrschenden klassizistischen
Schönheitsideal. So konstruierte sie alle ge-
schichtliche Wandlung als aufsteigende Ent-
wicklung zu diesem für absolut genommenen
Ideal hin und als absteigenden Verfall von ihm
weg. Diese zuerst ganz fraglos hingenommene
Grundwertung ist über dem Fortgang der kunst-
geschichtlichen Arbeit immer fragwürdiger ge-
worden. Sicher ist, daß sich die Kurve der
Entwicklung so einfach nicht ziehen läßt. Wir
wissen heute, daß jede Erwerbung einer neuen
Freiheit der Bewegung, jeder Fortschritt in der
Entbindung des Lebens, erkauft wird mit einem
Verlust an Geschlossenheit der Form, mit einem
Herabsteigen vom Wesenhaften zum Flüchtigen.
Die Bewegung der kunstgeschichtlichen Ent-
wicklung scheint sich irgendwie abzuspielen
zwischen zwei gegenpoligen Mächten, Mächten
der Bindung und Mächten der Lösung, Aus-
druck des ruhenden, wesenhaften Seins und
Ausdruck des bewegten, vorübergehenden Le-
bens. Im Anfang aber des künstlerischen Schaf-
fens steht das Ergriffensein von der Strenge
der Form, die Ehrfurcht vor der Geometrizität,
der Wille zur Haltung und Geschlossenheit —
und nicht ein Unvermögen zur Freiheit oder
ein Mangel an Können. Diesen in neuer Tiefe
erkannten bindenden Mächten gilt gegenwärtig
das Hauptinteresse der kunsthistorischen Ar-
beit. In der Bevorzugung der Zeiten der Gotik
und des Barock gegenüber der Renaissance
gewinnt diese Veränderung einen nur sympto-
matischen Ausdruck — der freilich manchem
äußerlichen Beobachter gleichfalls nur als eine
Art „Mode" erscheinen mag.
Und denselben Mächten gilt das Bemühen
unserer jungen Malergeneration. Von ihnen
erwartet sie die anregende Kraft, wie über das
naturale Sehen, das die impressionistische Zeit
in neuer, voraussetzungsloser Art revidiert und
um unerwartete Reichtümer vermehrt hat,
HENRY NIESTLE MÜNCHEN.
["ILLEBEN MIT FLASCHEN«
eine Geschichtsschreibung nicht möglich ist)
entnahm sie dem herrschenden klassizistischen
Schönheitsideal. So konstruierte sie alle ge-
schichtliche Wandlung als aufsteigende Ent-
wicklung zu diesem für absolut genommenen
Ideal hin und als absteigenden Verfall von ihm
weg. Diese zuerst ganz fraglos hingenommene
Grundwertung ist über dem Fortgang der kunst-
geschichtlichen Arbeit immer fragwürdiger ge-
worden. Sicher ist, daß sich die Kurve der
Entwicklung so einfach nicht ziehen läßt. Wir
wissen heute, daß jede Erwerbung einer neuen
Freiheit der Bewegung, jeder Fortschritt in der
Entbindung des Lebens, erkauft wird mit einem
Verlust an Geschlossenheit der Form, mit einem
Herabsteigen vom Wesenhaften zum Flüchtigen.
Die Bewegung der kunstgeschichtlichen Ent-
wicklung scheint sich irgendwie abzuspielen
zwischen zwei gegenpoligen Mächten, Mächten
der Bindung und Mächten der Lösung, Aus-
druck des ruhenden, wesenhaften Seins und
Ausdruck des bewegten, vorübergehenden Le-
bens. Im Anfang aber des künstlerischen Schaf-
fens steht das Ergriffensein von der Strenge
der Form, die Ehrfurcht vor der Geometrizität,
der Wille zur Haltung und Geschlossenheit —
und nicht ein Unvermögen zur Freiheit oder
ein Mangel an Können. Diesen in neuer Tiefe
erkannten bindenden Mächten gilt gegenwärtig
das Hauptinteresse der kunsthistorischen Ar-
beit. In der Bevorzugung der Zeiten der Gotik
und des Barock gegenüber der Renaissance
gewinnt diese Veränderung einen nur sympto-
matischen Ausdruck — der freilich manchem
äußerlichen Beobachter gleichfalls nur als eine
Art „Mode" erscheinen mag.
Und denselben Mächten gilt das Bemühen
unserer jungen Malergeneration. Von ihnen
erwartet sie die anregende Kraft, wie über das
naturale Sehen, das die impressionistische Zeit
in neuer, voraussetzungsloser Art revidiert und
um unerwartete Reichtümer vermehrt hat,
HENRY NIESTLE MÜNCHEN.
["ILLEBEN MIT FLASCHEN«