WAS ÜBERWINDET UNSERE KUNSTKRISE?
An der Krise der Kunst zu zweifeln, geht
l ebenso wenig an, wie die Krise der Wirt-
schaft zu verneinen. Unser ganzes Verhältnis
zur Kunst scheint sich zu verändern, von den
Konsumenten aus und vom Sinn der künstle-
rischen Produktion. Es ist nicht Zufall, daß wir
seit dem Kriegsende mit Kinder- und Irrenkunst
und mit der Tatsache spontaner Laien- und
Arbeitermalerei bekannt gemacht wurden und
unerwartete Lebenswerte, ja sogar Schön-
heiten in ihnen entdeckten. Der Vater dieses
befremdlichen Kunstzweiges, der Zöllner Rous-
seau, ist längst zum Heiligen und zum Objekt
der Bilderspekulation aufgerückt. Matrosen-
bilder, Holzfäller- und Rentiermalerei, Arbeiter-
dilettantismus und dergleichen hat es vielleicht
immer schon gegeben; ein ganz bezauberndes
Museum inbrünstiger Laienkunst ist z. B. die
Madonna del Mare hoch über Trsat, der jugo-
slawischen Zwillingsstadt von Fiume, deren
Matrosen- und Wunder-Gemälde noch von
keinem kundigen Thebaner ans Licht der Zeit-
schriften oder Kunstsalons gezogen worden
sind. Aber die Namen Adolf Dietrich, Trillhaase
und eines halben Dutzend Pariser Kartoffel-
röster und Concierges, deren naive Malereien
in den Sammlungen der fortgeschrittensten
Kenner auftauchen, sind dem Publikum in-
zwischen fast geläufig geworden. Nur mit gei-
stigem Abstand mag der Name Joachim Ringel-
natz in diesem Zusammenhang erscheinen.
Wahrscheinlich hat die Laienkunst längst
tiefere Wurzeln geschlagen, man bekümmert
sich nur nicht genug darum: aber hier ist ein
Anlaß zu glauben, daß Kunst wieder zur An-
gelegenheit des Volkes wird, vom Volke selbst
als dem produzierenden Konsumenten her.
Beinahe noch bedeutungsvoller ist die Wand-
lung in der berufsmäßig geübten Kunst. Das
geschieht ganz unbewußt, unbeachtet und all-
mählich; aber es ist Tatsache, daß es sich hier
nicht um den bloßen Stilwandel, etwa vom Ex-
pressionismus zur Sachlichkeit, von der Sach-
lichkeit zum malerischen Neubarock, sondern
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An der Krise der Kunst zu zweifeln, geht
l ebenso wenig an, wie die Krise der Wirt-
schaft zu verneinen. Unser ganzes Verhältnis
zur Kunst scheint sich zu verändern, von den
Konsumenten aus und vom Sinn der künstle-
rischen Produktion. Es ist nicht Zufall, daß wir
seit dem Kriegsende mit Kinder- und Irrenkunst
und mit der Tatsache spontaner Laien- und
Arbeitermalerei bekannt gemacht wurden und
unerwartete Lebenswerte, ja sogar Schön-
heiten in ihnen entdeckten. Der Vater dieses
befremdlichen Kunstzweiges, der Zöllner Rous-
seau, ist längst zum Heiligen und zum Objekt
der Bilderspekulation aufgerückt. Matrosen-
bilder, Holzfäller- und Rentiermalerei, Arbeiter-
dilettantismus und dergleichen hat es vielleicht
immer schon gegeben; ein ganz bezauberndes
Museum inbrünstiger Laienkunst ist z. B. die
Madonna del Mare hoch über Trsat, der jugo-
slawischen Zwillingsstadt von Fiume, deren
Matrosen- und Wunder-Gemälde noch von
keinem kundigen Thebaner ans Licht der Zeit-
schriften oder Kunstsalons gezogen worden
sind. Aber die Namen Adolf Dietrich, Trillhaase
und eines halben Dutzend Pariser Kartoffel-
röster und Concierges, deren naive Malereien
in den Sammlungen der fortgeschrittensten
Kenner auftauchen, sind dem Publikum in-
zwischen fast geläufig geworden. Nur mit gei-
stigem Abstand mag der Name Joachim Ringel-
natz in diesem Zusammenhang erscheinen.
Wahrscheinlich hat die Laienkunst längst
tiefere Wurzeln geschlagen, man bekümmert
sich nur nicht genug darum: aber hier ist ein
Anlaß zu glauben, daß Kunst wieder zur An-
gelegenheit des Volkes wird, vom Volke selbst
als dem produzierenden Konsumenten her.
Beinahe noch bedeutungsvoller ist die Wand-
lung in der berufsmäßig geübten Kunst. Das
geschieht ganz unbewußt, unbeachtet und all-
mählich; aber es ist Tatsache, daß es sich hier
nicht um den bloßen Stilwandel, etwa vom Ex-
pressionismus zur Sachlichkeit, von der Sach-
lichkeit zum malerischen Neubarock, sondern
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