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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 67.1930-1931

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Neugass, Fritz: Gino Severini - Paris
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https://doi.org/10.11588/diglit.7202#0387

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GINO SEVEKINI

> STILLEBEN« 1922

GINO SEVERINI-PARIS

VON DR. FRITZ NEUGASS

Als Gino Severini als 22 jähriger im gleichen
l Jahre wie sein toskanischer Landsmann
Modigliani nach Paris zog, war er noch in im-
pressionistischer Manier befangen. Doch den
Italienern, besonders den linear begabten Tos-
kanern lag diese Malweise nur wenig. Es ist
deshalb verständlich, wenn jene jungen tempe-
ramentvollen Südländer mit glühendem Eifer
in den Kampfruf jener Kunstrevolution mitein-
stimmten, die gerade in diesem Jahre 1905 in
Paris begonnen hatte, die alten Götter zu stürzen
und in dem Chaos der „Fauves" neue Ideen zu
verwirklichen.

Der Kubismus versuchte den zerfließenden
Bildern der Impressionisten einefestgefügteForm
und Gesetzmäßgkeit entgegenzusetzen. Doch
den Italienern war durch das Erbe ihrer jahr-
hunderte alten Malkultur dieses „Zurück zur
Form" kein unbedingtes Erfordernis. Vom Tre-
cento bis zum Cinquecento, von Giotto bis
Raffael wurde die äußere Form gepflegt. Wenn
auch die Form späterhin freier wurde und das
Barock gerade in Italien seine kühnsten und
gewagtesten Kompositionen schuf, so blieb das
Bildganze doch immer festen Gesetzen unter-
worfen. Aus dieser Entwicklung heraus wird es
dann verständlich, wenn in Italien statt des
Kubismus eine andere revolutionäre Form auf-
treten mußte, um mit der Vergangenheit zu
brechen und in einer paradoxen Äußerung sich
kund zu tun: der Futurismus. — Der Name
Severinis tritt hier zum ersten Male in Erschei-
nung. Er war der einzige Italiener in Paris, der
den Futurismus vertrat und ihn den andern zeit-

genössischen Strömungen gegenüberstellte. Er
stand hier im Mittelpunkt der ganzen sich neu ge-
staltenden Kunst und gab eine neue Note in dem
Wirrwarr der sich kreuzenden und formenden
Ismen. Die Motive jener Bilder sind die gleichen,
wie die von Degas, Manet undToulouse-Lautrec.
Doch Tanz und Kabarett sind nicht mehr visuelle
Erscheinungen, sondern alles ist aufgelöst in
Dynamik und zuckende Farbe. Die Bewegung
und die Schwingung der Menschen und des
Raumes war der Bildinhalt. Was davon ver-
wirklicht und sichtbar wurde, waren kaleido-
skopische Wunder und mathematisch aufgeteilte
Farbflecke, die alle zur Bildmitte in einem ge-
nau berechneten Verhältnis standen. Die Futu-
risten selbst bezeichneten sich als „Primitive",
doch letzten Endes war dies eine rein cerebrale
Kunst, die in ihrer Idee zweckvoll, in den voll-
endeten Bildern aber nur Stückwerk blieb. Seve-
rini wußte bald, daß es aus dieser Sackgasse
keinen Ausweg gibt und versuchte deshalb,
seine starken Kräfte anderweitig auszuwirken.

1916 beginnt Severini sich mit den Problemen
des Kubismus zu beschäftigen. Doch sein Kubis-
mus ist in den Anfängen ein anderer als der
Picassos und Braques. Denn Severini kommt
von der Bewegung, der „Vitesse" und der „Rota-
tion" her und verlangsamt das Tempo seiner
Schwingungen. Bei Braque und Picasso ist es
die festgefügte Form, das innere Gleichgewicht,
und — man könnte antithetisch sagen — die
Erstarrung, die zum Kubismus geführt haben.
So begegnen sich hier — bildlich ausgedrückt
— zwei verschiedene Ströme, die aus verschie-

XXXIV. März 1981 4 *
 
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