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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 67.1930-1931

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Neugass, Fritz: Gino Severini - Paris
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https://doi.org/10.11588/diglit.7202#0389

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Gino Severini- Paris

gino sevkrini—paris

gemälde > stilleben« 1921

denen Quellen gespeist, eine Zeitlang zwar in
gleicher Richtung fließen, aber alsbald wieder
nach verschiedenen Seiten auseinanderstreben.

Picasso und Braque und die Trabanten des
Kubismus gewinnen eine größere Freiheit und
Leichtigkeit, während Severini immer strenger
wird und gleichsam denselben Weg in umge-
kehrter Richtung durchläuft. Severini studiert
die kunstästhetischen Schriften von Vitruv bis
Viollet-le-Duc und Choisy, befaßt sich mit den
Traktaten Leonardos und Dürers und sucht
dessen geometrischen und mathematischenPro-
bleme mit musikalischen Harmonien und Rhyth-
men zu vergleichen. Die vergleichende Ästhetik
zwischen den Künsten war für Severini theore-
tisch höchst bedeutsam, da er darin Zusammen-
hänge zu erkennen glaubte, die später in seinen
malerischen Werken ihren Niederschlag gefun-
den haben. Aber diese Jahre bis 1922 waren
schöpferisch ohne besondere Bedeutung. Das
Ergebnis jener theoretischen Probleme, die mehr
gedacht als gemalt werden mußten, veröffent-
lichte Severini 1921 in einem Buche „Vom
Kubismus zum Klassizismus" (Paris, Edition
Polovosky, 1921). Er entlarvt darin die Anarchie
des Kubismus und weist die geometrischen
Konstruktionsgesetze nach, wie sie bereits von
Paolo Ucello, Pierro della Francesca, Leonardo
da Vinci, Luca Pacioli und Dürer formuliert
worden sind. Der Kubismus war für ihn das

gleiche, wie für Dürer und Mantegna: Ein pla-
stischer Kontrapunkt. Um die Wahrheit seiner
Theorien nachzuweisen, transponierte er 1923
die „vier Kartenspieler" (Seite 387) Cezannes
nach seinen neuen Gesetzen. Ein Vergleich zeigt
am besten, wie stark Gesetz und Regel das Bild
beherrschen und wie von dem fast unsichtbar
komponierten und gefügten Werke Cezannes
das konstruktive Element übersteigert worden
ist. Ein völlig neuer Geist beherrscht das Bild.

1924 geht Severini in die Schweiz. Der Auf-
trag, die Kirchen in Semsales und in La Roche
auszumalen, halten ihn dort 4 Jahre fest. Diese
großen Fresken*) retteten ihn vor den Gefahren
reiner Spekulation. Angesichts der großen
Wandflächen, die er dort zu schmücken hatte,
befaßt er sich wieder mit technischen Fragen
und später, 1928, kehrt er nach Paris zurück,
bereichert durch eine starke dekorative Be-
gabung, die er nun in allen seinen Bildern und
Illustrationen auswirken läßt. Es sind lyrische
Stilleben in einem streng gefügten, geistigen
Gesetzen unterworfenen Aufbau und Rhythmus.
Das Volumen ist nicht mehr, wie beim ehema-
ligen Futuristen, melodisch und arabeskenhaft,
sondern streng tektonisch und geschlossen. Die
Geometrie, die seinen letzten Bildern zugrunde
liegt, ist für Severini kein Experiment mehr,
sondern spontanes Erleben..........fr. n.

*] Deutsehe Kunst und Dekoration, Maiheft 1929, S. 98—103.
 
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