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Harth, Dietrich [Hrsg.]
Die Erfindung des Gedächtnisses — Frankfurt am Main, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.2940#0076
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MICHEL DE MONTAIGNE
Ein gutes Gedächtnis schützt nicht vor
Schwachheit im Verstände*

Sich damit abzugeben, vom Gedächtnis zu reden, kleidet
keinen Menschen schlechter als mich; denn ich kenne davon
selbst nicht die geringste Spur in mir, und ich glaube nicht,
daß noch ein Zweiter auf dieser Welt damit so entsetzlich
schlecht verwahrt sei. Ich habe meinen bescheidenen Teil
von allen niedrigen und gemeinen Naturgaben; in Rück-
sicht dieser aber meine ich sonderbar, sehr selten und wür-
dig zu sein, einst von Welt und Nachwelt als Beispiel ange-
führt zu werden. Außer dem natürlichen Nachteil, dem ich
dadurch ausgesetzt bin (denn wahrlich, es ist ein so notwen-
diges Ding, daß Plato - im Kritias - wohl recht hat, es eine
große und mächtige Gottheit zu nennen), pflegt man noch
dazu in meiner Gegend zu sagen, der Mensch hat kein Ge-
dächtnis, wenn man jemand andeuten will, der nicht bei
Sinnen ist; und wenn ich mich beklage, daß es mir daran
mangle, so verweisen sie mirs und tun, als ob sie mir nicht
glaubten, weil es ihnen klingt, als hätte ich mich beklagt, es
sei in meinem Kopf nicht richtig. Man finde keinen Unter-
schied zwischen Gedächtnis und Verstand. Das heißt mir
meinen Handel arg verderben; aber die Leute tun mir Un-
recht; denn die Erfahrung lehrt vielmehr im Gegenteil, daß
die besten Köpfe von Gedächtnis gern ein wenig schwach
im Verstände sind. Auch darin tun sie mir unrecht, daß sie
mit ebendenselben Worten, die von meiner Schwäche re-
den, auch meinen Undank zu treffen glauben, während ich
mich doch auf nichts besser verstehe als ein Freund meiner
Freunde zu sein. Man belastet mein Herz mit der Schuld
* Essais I, 9 (1580/1592)
 
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