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Harth, Dietrich [Hrsg.]
Die Erfindung des Gedächtnisses — Frankfurt am Main, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.2940#0088
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DENIS DIDEROT

Physiologie, oder Von der Macht des Gedächtnisses
über die Vernunft''1'

Ist das Gedächtnis die Quelle der Einbildungskraft, der
Klugheit, des Scharfsinns, des Genies? Macht die Mannig-
faltigkeit des Gedächtnisses aHein die Mannigfaltigkeit der
Geister aus?
Soviel man auch sehen, hören, schmecken, fühlen und
riechen mag, so hat man doch, wenn man von alledem
nichts behält, all das für nichts und wieder nichts in sich
aufgenommen.
Betrachten Sie die weiche Substanz des Gehirns als eine
empfindliche, lebende Wachsmasse, der alle möglichen
Formen eingeprägt werden können, die keine der Formen,
die ihr eingeprägt wurden, wieder verliert und doch unauf-
hörlich neue Formen aufnimmt und bewahrt.
Nun gut: das ist das Buch. Wo aber ist der Leser? Der
Leser- das ist das Buch selbst, denn es ist doch ein empfin-
dendes, lebendes und sprechendes Buch, das heißt ein
Buch, das durch Laute oder durch Zeichen die Reihenfolge
seiner Empfindungen mitteilt.
Und wie kann es sich selbst lesen? Indem es das empfin-
det, was in ihm steht, und es durch Laute ausdrückt.
Entweder steht eine Sache in diesem Buche geschrieben,
oder sie steht dort nicht geschrieben.
Steht sie dort überhaupt nicht geschrieben, so kennt man
sie nicht. In dem Augenblick, in dem sie aufgeschrieben
wird, erfährt man von ihr.
Nach der Art und Weise, wie sie aufgeschrieben ist, kennt
man sie seit kurzem oder seit langem.
* Clements de pbysiologie XXXII (1774-1780)
 
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