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Harth, Dietrich [Hrsg.]
Die Erfindung des Gedächtnisses — Frankfurt am Main, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.2940#0133
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ERNST CASSIRER
Im Schnittpunkt von Erwartung und Erinnerung*

Ein System, wie das Bergsonsche, das die Ausprägung und
Entfaltung einer einheitlichen, in sich geschlossenen
Grundanschauung ist, darf den Anspruch erheben, daß es
nicht von außen her gesehen und beurteilt, sondern daß es
mit seinen eigenen Maßen gemessen wird. Wir stellen dem-
gemäß ihm gegenüber nur die eine Frage, ob es der eigenen
Aufgabe und der eigenen Norm treu geblieben ist - ob es das
Phänomen der Zeit, so wie es sich in der reinen Anschauung
darstellt, als Ganzes erfaßt und als Ganzes beschrieben hat?
Und hier macht sich freilich alsbald ein Zweifel und ein sy-
stematisches Bedenken geltend. Denn die Trias der Zeitstu-
fen, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, gibt sich
uns in der Anschauung der Zeit als unmittelbare Einheit -
als eine Einheit, die eine verschiedene Bewertung der einzel-
nen Stufen nicht kennt. Keine Phase ist hier von der anderen
abgelöst, keine ist als die „eigentliche", die wahrhafte und
ursprüngliche gekennzeichnet; - sind sie doch alle gleich
sehr in dem einfachen „Sinn" der Zeit gegeben und gleich
notwendig in ihm beschlossen. Es gibt, gemäß dem Worte
Augustins, nicht drei Zeiten, sondern nur die eine Gegen-
wart, die jedoch Gegenwart vom Vergangenen, vom Ge-
genwärtigen und vom Künftigen ist {praesens de praeteritis,
praesens de praesentibus, praesens de futuris). Und so ist
denn auch das Ich in seiner Selbstanschauung weder in drei
ganz verschiedene Richtungen des Zeitbewußtseins gespal-
ten, noch ist es einer einzigen von ihnen verhaftet und ihr
ausschließlich oder vorzugsweise anheimgegeben. Nimmt
man die Zeit statt als substantielle, vielmehr als funktionelle
Philosophie der symbolischen Formen 111,2 {1929)
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