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Harth, Dietrich [Hrsg.]
Die Erfindung des Gedächtnisses — Frankfurt am Main, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.2940#0162
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GILBERT RYLE
Erinnern ist wie Erzählen'''

Die Erinnerung und das Nichtvergessen sind weder Quel-
len' des Wissens noch, wenn das etwas anderes ist, Arten, in
denen wir Wissen erwerben. Die erstere setzt voraus: ge-
lernt und nicht vergessen haben, das letztere ist gelernt und
nicht vergessen haben. Keines von beiden ist eine Art Ler-
nen, Entdecken oder Beweisen. Noch weniger ist sich etwas
ins Gedächtnis zurückrufen ein Stück Beweismaterial, aus
dem mit Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit auf das ge-
schlossen werden kann, was sich zugetragen hat, außer in
dem Sinn, daß die Geschworenen aus der Zeugenerzählung
Schlüsse ziehen können. Der Zeuge selbst folgert nicht: ,Ich
erinnere mich, daß der Zusammenstoß kurz nach dem Don-
nerschlag stattfand, also wird er wohl kurz nach dem Don-
nerschlag stattgefunden haben.' Es gibt keinen solchen
Schluß; und sogar wenn es ihn gäbe, ist ein wertvoller Zeuge
doch der, der sich genau erinnern kann, und nicht der, der
richtig schließt.
Gewiß mag ein Zeuge, vielleicht zu seiner Verwunde-
rung, zu dem Eingeständnis gezwungen werden, daß er
seine Phantasie zu Hilfe genommen habe, da er aus dem
einen oder anderen Grunde sich nicht ins Gedächtnis habe
zurückrufen können, was er vorgab, sich zurückgerufen zu
haben; in andern Umständen wird er vielleicht freiwillig
Zweifel darüber äußern, ob er sich tatsächlich erinnere oder
es sich ausdenke. Aber aus der Tatsache, daß vermeintliche
Erinnerungen Erfindungen sein können, folgt nicht, daß
wahrheitsgetreue Erinnerungen Entdeckungen oder erfolg-
reiche Untersuchungen sind. Jemand, der sagen soll, was
* The Concept of'MindVlll (1949)
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