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Harth, Dietrich [Hrsg.]
Die Erfindung des Gedächtnisses — Frankfurt am Main, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.2940#0112
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FRIEDRICH NIETZSCHE
Über die Schrecken des Gedächtnismachens'''

„Wie macht man dem Menschen-Tiere ein Gedächtnis? Wie
prägt man diesem teils stumpfen, teils faseligen Augen-
blicks-Verstande, dieser leibhaften Vergeßlichkeit etwas so
ein, daß es gegenwärtig bleibt?" ... Dieses uralte Problem
ist, wie man denken kann, nicht gerade mit zarten Antwor-
ten und Mitteln gelöst worden; vielleicht ist sogar nichts
furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte
des Menschen, als seine Mnemotechnik. „Man brennt etwas
ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört,
webzutun, bleibt im Gedächtnis" - das ist ein Hauptsatz aus
der allerältesten (leider auch allcrlängsten) Psychologie auf
Erden. Man möchte selbst sagen, daß es überall, wo es jetzt
noch auf Erden Feierlichkeit, Ernst, Geheimnis, düstere
Farben im Leben von Mensch und Volk gibt, etwas von der
Schrecklichkeit nachwirkt, mit der ehemals überall auf Er-
den versprochen, verpfändet, gelobt worden ist: die Ver-
gangenheit, die längste tiefste härteste Vergangenheit,
haucht uns an und quillt in uns herauf, wenn wir „ernst"
werden. Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab,
wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu ma-
chen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die
Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelun-
gen (zum Beispiel die Kastrationen), die grausamsten Ritu-
alformen aller religiösen Kulte (und alle Religionen sind auf
dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) - alles
das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im
Schmerz das mächtigste Hilfsmittel der Mnemonik erriet.
In einem gewissen Sinne gehört die ganze Asketik hierher:
* Zur Genealogie der Moral 11,3 O887)
 
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