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Harth, Dietrich [Hrsg.]
Die Erfindung des Gedächtnisses — Frankfurt am Main, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.2940#0165
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ANDRE LEROI-GOURHAN
Evolution des sozialen Gedächtnisses -
Bedingung des Überlebens'''

Wenn wir bei den Primaten ein ererbtes operatives Verhal-
ten feststellen, das mehr und mehr von einem individuell
konstruierten Gedächtnis überlagert wird, so wird das Pro-
blem des operativen Gedächtnisses beim Menschen vom
Problem der Sprache beherrscht. In der Tat wird bei uns ein
beträchtlicher Teil der genetischen und der durch individu-
elle Erfahrung bestimmten Konditionierung vollkommen
von der Erziehung überlagert, in deren Verlauf die Indivi-
duen ihr gesamtes operatives Verhalten erwerben. Das indi-
viduell konstruierte Gedächtnis und die Einschreibung per-
sönlicher Verhaltensprogramme sind vollständig durch das
Wissen kanalisiert, dessen Bewahrung und Übertragung
die Sprache in jeder ethnischen Gemeinschaft sichert. So
kommt es zu einem echten Paradoxon: die Möglichkeiten
der Gegenüberstellung und des Vergleichs und damit der
Befreiung des Individuums beruhen auf einem virtuellen
Gedächtnis, dessen Inhalt der Gesellschaft gehört. Bei den
Insekten ist die Gesellschaft nur in dem Maße Inhaber des
Gedächtnisses, wie diese Gesellschaft das Überleben einer
bestimmten genetischen Kombination bedeutet, in der das
Individuum keine merklichen Möglichkeiten des Verglei-
chens besitzt. Der Mensch ist zugleich zoologisches Indivi-
duum und Schöpfer des sozialen Gedächtnisses; so erklärt
sich vielleicht auch die Verbindung zwischen Art und Eth-
nie und der Kreis, der sich im Fortschritt (dem charakteri-
stischen Merkmal menschlicher Gemeinschaften) zwischen
* Lageste et laparole (1964/65)
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